Polarisierung, Identität und wie alles schiefging

Wir stecken in unseren Weltanschauungsgemeinschaften fest und polarisieren durch immer radikalere Kampagnen. Die Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ in Europa oder den USA übersieht die negativen Seiten von Ausbeutung und Kolonialismus, die bis heute nachwirken.

Zwei amerikanische Akademiker und öffentliche Intellektuelle haben kürzlich Bücher zur zunehmenden Polarisierung vieler zeitgenössischer westlicher Gesellschaften veröffentlicht: Francis Fukuyama schrieb „Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ und Kwame Anthony Appiah veröffentlichte „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“. Beide Bücher erhielten breite Aufmerksamkeit und wurden in der „New York Times“ sowie in der „New York Review of Books“, Amerikas intellektuellen Spitzenmedien, rezensiert. Dadurch fanden sie ein großes Publikum und das Image beider Autoren als wichtige und einflussreiche Intellektuelle wurde gestärkt.

Appiah ist ein Philosoph und argumentiert in guter philosophischer Tradition, dass solche Etiketten wie Nation, Rasse, Religion und Klasse genau das sind: Etiketten, die nicht der Realität entsprechen. In Wirklichkeit gibt es keine ordentlich zusammengehaltenen Nationen und Rassen. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse ist so kurzlebig wie unwesentlich. Appiah, der in Ghana geboren wurde, aber in New York City lebt, plädiert für die Notwendigkeit, einen „kosmopolitischeren Impuls“ aufzugreifen – ein Impuls, dem er sicherlich seit seinem Umzug nach New York gefolgt ist. Letztendlich stellt Appiah fest, dass das Festhalten an falschen und engen Identitäten unsere Fähigkeit untergräbt, als Menschen zusammenzuleben, die mehr miteinander gemeinsam haben, als zeitgenössische Identitätspolitik uns glauben machen will.

Entlarvung von Unwahrheiten und Lügen

Appiahs Buch ist in der Tradition geschrieben, Unwahrheit und Lüge zu demontieren, damit wir endlich der Realität begegnen können, wie sie wirklich ist. Dieses Thema befasst sich mit der alten, europäischen Tradition der Aufklärung, die in Jürgen Habermas ihren neuesten und entschiedensten Verteidiger gefunden hat. Demnach werden sich Vernunft und Rationalität in menschlichen Angelegenheiten letztlich durchsetzen. Es ist die Aufgabe aufgeklärter Gelehrter, Mythen zu erkennen und zu demontieren, indem sie dem Licht wissenschaftlicher Vernunft ausgesetzt werden. Gleichzeitig ist es ein idealistischer, arroganter und naiver Ansatz, weil dabei davon ausgegangen wird, das Böse und die Irrationalität könnten den starken Kräften der Vernunft (idealistisch) nicht standhalten, und die europäische, weiße männliche Dialogkultur enthalte das Heilmittel für die Welt (naiv und arrogant).

Es sollte nicht überraschen, dass ein kosmopolitischer Gelehrter wie Anthony Appiah ein solch eurozentrisches Verständnis von Geschichte annimmt, wenn man bedenkt, wie Philosophie an Hochschulen und Universitäten auf der ganzen Welt gelehrt wird: als ein hochgradig voreingenommener und eurozentrischer Zugang zur Produktion von Wissen. Dieser reduziert die Suche nach Weisheit auf eine sehr eng gefasste westliche Tradition, ohne zu hinterfragen, wie westlich diese Tradition wirklich ist und was andere nichtwestliche Traditionen zu der universellen Suche nach Wissen beizutragen haben.

Francis Fukuyama ist Politikwissenschaftler und nähert sich dem gleichen Thema nicht so sehr aus der Perspektive der Aufklärung, sondern eher in der Art, die an einen neokonservativen Theoretiker erinnert. Aus seiner Sicht hat die politische Linke ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf Sonderrechte gerichtet und damit nicht nur die Rechte von Homosexuellen, sondern letztlich auch den weißen Nationalismus inspiriert. Damit, so Fukuyama, fühlen sich durchschnittliche weiße Amerikaner übergangen und das Gleiche gilt seiner Meinung nach auch für durchschnittliche europäische Bürger.

Ein Großteil der aktuellen rassistischen Reaktion in den Vereinigten Staaten war eine Reaktion auf einen schwarzen Präsidenten – so sehr, dass die Tea Party, einer der zentralen Auswüchse dieser Bewegung politischer Ressentiments, unter Trump nicht mehr existiert.

Während Appiah genau tut, wofür er als Politikwissenschaftler ausgebildet wurde, indem er nach den letzten Ursachen und verborgenen Wahrheiten fragt, bietet Fukuyama eher amorphe schwer zu beweisende Themen wie das eines universellen „Thymos“ (griechisch für den menschlichen Wunsch nach Anerkennung), um so zu argumentieren, dass letztlich linke und multikulturelle soziale Bewegungen und Minderheiten die Schuld tragen an der Spaltung, die viele zeitgenössische Gesellschaften charakterisiert.

Falsche Etiketten

Wenngleich klar ist, dass Etiketten wie Rasse, ethnische Zugehörigkeit und Nation in dem Sinne falsch sind, wie es Appiah ausführt, beginnen die Probleme doch erst dort. Warum fallen so viele Menschen auf diese falschen Etiketten herein? Warum sind wir so gespalten? Zugegeben: Verwurzelte und wesentliche Identitäten sind in Appiahs Worten in der Tat ein Problem unserer heutigen europäischen und nordamerikanischen Realitäten – aber sind sie das Hauptproblem, das die gegenwärtige Polarisierung und Spaltung erklärt? Gegen Appiah und Fukuyama wage ich zu sagen: Nein.

Appiahs und Fukuyamas Ansätze sind meines Erachtens beide kurzsichtig, da sie sich weigern, den größeren, historischen Moment zu betrachten, den Westeuropa und die Vereinigten Staaten erleben, und sich stattdessen dafür entscheiden, sich auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor ihnen liegt. Ich möchte zu bedenken geben, dass Identitätspolitik, Multikulturalismus, LGBT-Rechte und Bewegungen wie Black Lives Matter nicht die Ursache, sondern das Ergebnis weiter zurückreichender Trends historischer gesellschaftlicher Veränderungen darstellen.

Appiahs und Fukuyamas Ansätze sind meines Erachtens beide kurzsichtig, da sie sich weigern, den größeren, historischen Moment zu betrachten.

Böser weißer Nationalismus in den USA, Neonazismus in Deutschland und die weit verbreiteten Ressentiments und Aktionen gegen Immigranten überall in Europa und in den USA sind meiner Meinung nach besser zu verstehen als politische Gegenreaktion auf die vielen Fortschritte, die Minderheiten und in der Geschichte benachteiligte Menschen und Gruppen im Laufe der letzten Jahre erzielt haben. Ein Großteil der aktuellen rassistischen Reaktionen in den Vereinigten Staaten war eine Reaktion auf einen schwarzen Präsidenten – so sehr, dass die Tea Party, einer der zentralen Auswüchse dieser Bewegung politischer Ressentiments, unter Trump nicht mehr existiert.

Merkels Asylpolitik

Insbesondere in Deutschland muss die sehr fortschrittliche Asylpolitik, die Angela Merkel als Reaktion auf die syrische Flüchtlingskrise durchgesetzt hat, als Ursache für die rassistischen Reaktionen gesehen werden, die wir derzeit in Chemnitz und an anderen, ähnlichen Orten erleben, in denen Neonazis von einem Comeback träumen.

Dass ein asiatisch-amerikanischer Intellektueller und ein in Ghana geborener Gelehrter die Idee unterstützen, dass gerade die Bewegungen, die für Gleichheit und Menschenrechte kämpfen, die Schuld an der aktuellen Polarisierung tragen, ist natürlich eine seltene Wundertat für die fremdenfeindliche, nationalistische, frauenfeindliche und rassistische Rechte, die Schwierigkeiten hat, ernsthafte Gelehrte für ihre Sache zu rekrutieren. Die größeren Fragen zu aktuellen gesellschaftliche Polarisierungen, die diese beiden Autoren offenlassen, erfordern eine stärker historische Sichtweise – anders als die Art, die Fukuyama bietet, wenn er ein Thema von Erlebnis vs. Erfahrung (sic.) in Rousseau entdeckt und bei denen, die er beeinflusste.

Ich gebe zu bedenken, dass viele der bösartigen reaktionären Rassisten und Aktivisten gegen Immigranten alte Verlierer sind. Das heißt: Sie gehören zu einer Generation von Menschen, die die rasanten Fortschritte in der Technologie und bei den beruflichen Anforderungen in den letzten Jahrzehnten nicht mitvollziehen konnten. In der Tat haben sie einen großen Teil ihres sozialen Status und ihrer Wertschätzung verloren – sich selbst gegenüber und von außen.

Es ist auch erwähnenswert, dass der wirklich böse Charakter dieser Gruppe nicht so sehr in ihrer Anti-Einwanderungs-Rhetorik und -Aktion zum Tragen kommt als vielmehr in ihren Anti-Flüchtlings- und Anti-Asyl-Haltungen. Es ist eine Sache, über die Ansiedlung von bisher unbekannten Anderen in einer Gemeinschaft zu diskutieren. Es ist aber eine ganz andere Haltung, Flüchtlingen des Bürgerkriegs in einer Zeit lebensbedrohlicher Krise eine sichere Unterkunft zu verweigern. Zu oft werden diese Themen – meist aus strategischen Gründen – von denselben Leuten in einen Topf geworfen, die sich für „Deutsche zuerst“, „Amerikaner zuerst“, „Ungarn zuerst“, „Polen zuerst“ usw. stark machen.

Die Umfragen zu den Brexit-Befürwortern zeigen diese demografische Fraktion klar als die reaktionärste und verbittertste – und nicht ohne Grund, da eine schnelllebige Welt, die alte Menschen und diejenigen, die nicht konkurrenzfähig sind, aussortiert, in der Tat respektierte ältere Menschen, die Erinnerungen haben und die Weisheit eines langen Lebens anbieten können, zu nutzlosem Überschuss macht, der unsere privaten und öffentlichen Särge überlastet. Können Minderheiten, Einwanderer und progressive soziale Bewegungen dafür verantwortlich gemacht werden? Wohl kaum. Eher scheint der Kapitalismus hier der Hauptschuldige zu sein, wie der gute alte Karl Marx bereits 1848 erkannte: Unter dem Kapitalismus schmelze alles Feste in die Luft, alles, was heilig ist, werde entweiht.

Alte Verlierer

Natürlich stehen „alte Verlierer“ vor anderen Herausforderungen. Weißen in den USA erzählen die Medien, dass sie bald eine Minderheit in den USA werden, was in vielen eine erhebliche Angst hervorzurufen scheint – eine Angst, die wahrscheinlich die Befürchtung widerspiegelt, dass jene Minderheiten, die systematisch von der weißen Mehrheit misshandelt worden sind, endlich die Chance erhalten könnten, es ihnen heimzuzahlen.

Obschon es keine Beweise dafür gibt, dass Latinos und Schwarze in den Vereinigten Staaten so denken, sind sich die Weißen in den USA sehr wohl bewusst, dass Schwarze durch Weiße systematischem Völkermord ausgesetzt waren, Versklavung, Misshandlung, legaler und illegaler Segregation, Vergewaltigung und allen Arten vorstellbaren und unvorstellbaren Missbrauchs. 300 Jahre vermehrten Weiße ihren Reichtum auf den Schultern schwarzer Sklaven und diejenigen, die es wagten, einen Weißen auch nur anzuschauen, lynchten sie auf die abscheulichste Weise.

Weiße Angst, zumindest in den Vereinigten Staaten, ist also eine historische Angst – eine, die diejenigen ergreift, die den Zug verpasst haben und befürchten, dass 400 Jahre systematischer Ungerechtigkeit sie bald einholen werden. Es ist auch die Qual eines Tieres, das bereits in den letzten Atemzügen liegt. Weiße werden in der Tat bald eine Minderheit werden, ähnlich wie andere Minderheiten in den Vereinigten Staaten, und ihr absoluter Einfluss auf die politische Macht stirbt mit ihnen.

Während die Urbanisierung und der Zugang zu Bildung sich stetig erweitert, befinden sich die sprichwörtlichen ländlichen „Bedauernswerten“, wie Hillary Clinton sie in ihrem erfolglosen Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft charakterisiert hat, in der Tat auf der falschen Seite der Geschichte – und sie wissen es, oder zumindest fühlen sie es. Wir sollten uns nicht wundern, wenn diese Bevölkerungsgruppen, die nicht mithalten können, die von der Gesellschaft und anderen keine Anerkennung und Wertschätzung erhalten, sich zusammenschließen und eine Bewegung bilden. Sie als „bedauernswert“ zu bezeichnen, wird in dieser Situation nicht viel helfen.

Diejenigen, die für ihre Gleichbehandlung einstehen, für die gegenwärtige Polarisierung und Spaltung in vielen Gesellschaften verantwortlich zu machen, bedeutet, den Opfern die Schuld zu geben.

Natürlich gibt es auch junge Bedauernswerte, die sich gleichermaßen abgehängt fühlen und auf die Fortschritte der anderen eifersüchtig sind – vor allem, wenn diese anderen anders aussehen als sie selbst oder eine andere Sprache sprechen. Statistische Projektionen zeigen, soweit wir ihnen vertrauen können, dass Millennials in den Vereinigten Staaten Gefahr laufen, die erste Generation in der modernen US-Geschichte zu werden, die weniger verdient als ihre Eltern. Das ist für viele ziemlich furchteinflößend. Uns wird auch gesagt, dass US-Millennials eine durchschnittliche persönliche Verschuldung in Höhe von 33.000 US-Dollar haben, die hauptsächlich aus Studienkrediten besteht. Viele von ihnen denken, und sie liegen damit wahrscheinlich richtig, dass sie nie in der Lage sein werden, ihre Schulden zu ihren Lebzeiten abzuzahlen.

Gesellschaften von Rechten und Ansprüchen

Viele von ihnen neigen, ähnlich wie die alten Verlierer, dazu, andere für ihre Probleme verantwortlich zu machen – und noch einmal: vor allem dann, wenn diese anderen nicht weiß sind und/oder von woanders kommen. Warum? Ich fürchte, anstatt etwas so Mystisches wie Fukuyamas „Thymus“ zu beschwören, ist die Erklärung viel einfacher: Es ist schlichtweg einfacher, anderen die Schuld für das eigene Unglück zu geben. Dies bietet auch emotionale Erleichterung, da es Ressentiments von sich selbst zu einem anderen kanalisiert und so zum eigenen emotionalen Wohlbefinden beiträgt. Es ist auch „a la mode“ in Gesellschaften, die sich mehr und mehr als Gesellschaften von Rechten und Ansprüchen definieren – und immer weniger als Gesellschaften mit Verantwortung gegenüber anderen. Immer mehr Menschen in „fortgeschrittenen“ westlichen Gesellschaften, insbesondere in den jüngeren Generationen, haben das Gefühl, dass die Gesellschaft ihnen etwas schuldet; dass sie das Recht auf Glück und Erfüllung haben – ohne jemals zu fragen, was sie selbst dazu beitragen müssen, damit diese Rechte gewahrt und sichergestellt werden.

Immer mehr Menschen in „fortgeschrittenen“ westlichen Gesellschaften […], haben das Gefühl, dass die Gesellschaft ihnen etwas schuldet; dass sie das Recht auf Glück und Erfüllung haben.

Lassen Sie es mich ganz klar sagen: In ehemaligen Sklavenhaltergesellschaften wie den Vereinigten Staaten von Amerika haben Weiße als Gruppe von über 300 Jahren exklusiver, rein weißer Affirmative-Action-Politik profitiert. Sie haben exklusiven Zugang zu Reichtum, Eigentum, Alphabetisierung und sozialem Ansehen in ihrer Gesellschaft genossen. Es ist höchste Zeit und ein absoluter moralischer Imperativ, dass all jene, die unter Versklavung, Diskriminierung, Verkennen und systematischer Misshandlung gelitten haben, Gleichbehandlung, Respekt und Chancengleichheit erlangen – und manchmal gewinnen – in den sehr wettbewerbsorientierten Systemen, in denen sie sich heute befinden. Um heute Gerechtigkeit zu erlangen, bedarf es einer systematischen Aufhebung von Ungleichheiten der Vergangenheit, damit alle Menschen einander als Gleichberechtigte begegnen können. Diejenigen, die für ihre Gleichbehandlung einstehen, für die gegenwärtige Polarisierung und Spaltung in vielen Gesellschaften verantwortlich zu machen, bedeutet, den Opfern die Schuld zu geben.

Die guten alten Zeiten

Es ist eine unwürdige Angelegenheit – aber noch einmal: Wir sollten nicht überrascht sein vom sauren und politisch sehr strategischen Nihilismus von Francis Fukuyama und seinen Anhängern, auch wenn er mit wissenschaftlichen Auszeichnungen daherkommt oder als abscheuliche Beleidigung und Angriff von alten Verlierern oder jungen Bedauernswerten.

In vielerlei Hinsicht herrscht „Kolonialität“ bis heute.

Im europäischen Kontext beruhen die Ressentiments von heute natürlich nicht auf der Versklavung der Menschen, die den gleichen Lebensraum teilen, aber auf etwas sehr Ähnlichem: Die „guten alten Zeiten“ für Europa waren diejenigen, in denen „jeder wusste, wo er hingehörte“ und in denen soziale, kulturelle und wirtschaftliche Hierarchien unangefochten blieben. Auch hier profitierten die europäischen Kolonialmächte von einer internationalen Arbeitsteilung, die komplett auf der künstlichen Erfindung der „Rasse“ beruhte. Weiße Europäer waren die Kolonisatoren und Nutznießer und verschiedene Nichtweiße waren die Kolonisierten, die unter den Systemen leiden mussten, welche die europäischen Mächte eingeführt hatten, um sie zu unterdrücken. Die Kolonisierten arbeiteten umsonst oder später fast umsonst, um die Anhäufung von Reichtum im globalen Norden zu gewährleisten.

Der Kolonialismus endete nach den meisten Berichten in den 1990er Jahren, als die letzten Kolonien endlich die Unabhängigkeit erlangten (Hongkong und Macau), aber in vielerlei Hinsicht herrscht „Kolonialität“ bis heute. Nicht nur, dass einige ehemalige Kolonien niemals ihre Unabhängigkeit erlangt haben (man denke an die Azoren, die Kanarischen Inseln, Ceuta, Melilla, Gibraltar, Grönland, die Färöer-Inseln, Französisch-Polynesien, Französisch-Guayana, Französisch-Martinique, Französisch-Guadeloupe, Niederländischer Sint Maarten, Niederländisch Aruba, Niederländisch Curacao, Niederländisch Bonaire und Sint Eustasius, die US-amerikanischen Virgin Islands und Puerto Rico, um nur diejenigen zu nennen, die mir in den Sinn kommen); die Länder, die ihre Unabhängigkeit erlangt haben, bleiben unter der Vormundschaft und indirekten Kontrolle entweder ihrer ehemaligen Kolonisatoren oder der von diesen kontrollierten Unternehmen.

Die kolonisierenden Nationen ließen es nicht zu, dass ihre Kolonien wuchsen und nationale Märkte entwickelten. Sobald die Marktkontrolle und -dominanz weltweit etabliert war, wurden dieselben ehemaligen Kolonien in einen umkämpften Weltmarkt gezwungen, auf dem sie keine Chance auf Erfolg haben, wodurch diese Situation jener ähnlich ist, die ehemalige Sklaven heute in ehemaligen Sklavenhaltergesellschaften erleben. In den „guten alten Tagen“ für die ärgerlichen Europäer kannten ehemalige Sklaven und Kolonialherren ihren Platz und blieben dort, wo die Europäer sie seit Jahrhunderten ausgebeutet haben. Nun, da einige von ihnen die Mittel gefunden haben, um zu den Orten zu kommen, die zu einem großen Teil für das Elend ihres eigenen Landes verantwortlich sind – sind die guten alten Zeiten vorbei.

Unverdientes Recht

Die Europäer sind endlich mit den Arten von Ungerechtigkeiten und Elend konfrontiert, die sie in den letzten fünf Jahrhunderten in der Welt gepflanzt haben. Die meisten Einwanderer kommen einfach, um in einem System zu arbeiten, in dem Arbeit tatsächlich zu einem anständigen Leben führen kann, zu einem Leben in Würde, aber sie stehen denen gegenüber, die ihre eigenen Verdienste, ihre eigenen Beiträge und die Kehrseite ihres eigenen Wohlstands nie in Frage gestellt haben. Mögen die besten Frauen den Job bekommen – erzeugt jetzt die Angst, dass die traditionellen Gewinner ohne die unfairen Belastungen von Rassismus, Heteronormativität, Chauvinismus und Sexismus nicht mehr gewinnen könnten. Dass vielleicht diese anderen besser, besser ausgebildet, besser ausgestattet, williger und eifriger sind, um in genau den Systemen, die der globale Norden geschaffen hat, erfolgreich zu sein: wettbewerbsorientierte Marktsysteme. Dies ist die Art von Angst, die Ressentiments und konzertierte Aktionen zur Verteidigung unverdienter Privilegien hervorruft.

Es ist an der Zeit, dass diejenigen, die in den manipulierten Spielen der Sklaverei und des Kolonialismus immer gewonnen haben, endlich ab und zu verlieren. Die Gerechtigkeit würde eigentlich einen systematischen Verlust für die nächsten 300 oder 400 Jahre erfordern, bis all die ungerechtfertigten und unverdienten Privilegien, die in der „guten alten Zeit“ eingerichtet wurden, rückgängig gemacht sind. Kommen Sie darüber hinweg. Oder, konstruktiver: Bemühen wir uns alle darum, die vollen Konsequenzen von Sklaverei und Kolonialismus durch Bildungs- und Kulturprogramme in das Bewusstsein aller zu bringen, damit zumindest diejenigen, die jetzt ab und zu verlieren, verstehen, warum dies mit ihnen geschieht. Vielleicht können sie es dann besser akzeptieren. Tatsächlich bezweifle ich, dass Wissen dazu führt, dass man den Verlust unverdienter Privilegien akzeptiert, aber ich denke auch, es wäre einen Versuch wert.

Auch hier profitierten die europäischen Kolonialmächte von einer internationalen Arbeitsteilung, die komplett auf der künstlichen Erfindung der „Rasse“ beruhte.

Kein Nationalismus oder Patriotismus kann die in der Vergangenheit entstandenen Missstände und Nachteile rückgängig machen. Alles, was sie tun können, ist, diejenigen, die heute von den Missständen von gestern profitieren, weiter davon abzuschirmen, sich ihrer eigenen Verantwortung zu stellen.

Es ist jedoch notwendig, Verantwortung zu übernehmen, um den schweren Hinterlassenschaften der Vergangenheit zu begegnen. Dies ist eine politische Verantwortung und sie kann unter den meisten aktuellen politischen Systemen nicht gedeihen und sich entwickeln, in denen politische Verantwortung an gewählte Beamte und politische Eliten weitergegeben wird, die dann politische Verantwortung im Namen des Volkes ausüben – und nur insoweit, als es ihnen zur Wiederwahl verhilft –, während das Volk darauf besteht, Rechte und Ansprüche zu haben. Verantwortung erfordert, (wieder) politische Subjekte zu werden und Politik zu machen, anstatt sie den Politikern zu überlassen. Politische Verantwortung ist eine Verantwortung für andere und für die Gemeinschaft – keine egoistische Verteidigung unverdienter Privilegien, die unsere gegenwärtigen Systeme politischer Repräsentation kennzeichnet. Politische Verantwortung hat auch legitime Grenzen – die Grenzen der Gemeinschaft, weil wir uns nur für eine begrenzte Anzahl von Menschen verantwortlich fühlen können.

Wenn wir also gegen die viel beklagte Polarisierung der heutigen entwickelten kapitalistischen Länder kämpfen wollen, schlage ich vor, sich in Richtung direkterer und stärker partizipatorischer politischer Systeme zu bewegen, in denen sich normale Bürger aktiv in die politische Entscheidungsfindung einbringen, Verantwortung für andere übernehmen und in der Lage sind, politische Entscheidungen für ihre eigenen Gemeinschaften zu treffen. Paradoxerweise erfordert der Weg zu mehr Solidarität mit anderen mehr lokale Verortung.

Über den Autor
Portrait von Bernd Reiter
Bernd Reiter
Professor für Politikwissenschaft

Bernd Reiter ist Professor für Politikwissenschaft an der Texas Tech University, USA. Seine Ausbildung erhielt Reiter in Politikwissenschaft, Lateinamerikanistik, Soziologie und Anthropologie an der Universität Hamburg und am Graduate Center der City University of New York. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Themen Demokratie, Ethnizität und Dekolonisierung.

Bücher (Auswahl):

  • Decolonizing the Social Sciences and Humanities: An Anti-Elitism Manifesto. New York: Routledge, 2022
  • The Routledge Handbook of Afro Latin American Studies, with John Anton Sanchez. New York: Routledge, 2022
  • Legal Duty and Upper Limits: How to Save our Democracy and our Planet from the Rich. New York: Anthem Press, 2020

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.