Tétouan – Andalusisches Kulturerbe in Marokko

Die Medina, die Altstadt Tétouans, ist eine der kleinsten in Marokko. Hier gleicht kein Haus dem anderen, jedes Gebäude hat seine eigene Identität. Eine kleine Gruppe engagierter Bürger aus Tétouan hat es sich zur Aufgabe gemacht, zum Erhalt der Medina beizutragen. Kann ihr Restaurierungsprojekt Vorbild für andere Städte sein?

Mehr als andere Städte Marokkos spiegelt Tétouan das ‚geteilte‘ euro-maghrebinisch-mediterrane Erbe. 1997 wurde die Medina in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen. Durch die Synthese marokkanischer und andalusischer Architektur und Stadtplanung sei sie ein Beispiel für den Einfluss der andalusischen Zivilisation im muslimischen Abendland gegen Ende des Mittelalters. Dazu kommt die strategische Lage der Stadt an der Straße von Gibraltar als Bindeglied zwischen zwei Kulturen und zwei Kontinenten.

Tétouan – eine andalusische "Capitale"

Karte von Gibraltar und Marokko.
Tétouans strategische Lage am Gibraltar: eine Verbindung zwischen zwei Kulturen und zwei Kontinenten, Illustration: Heritage Images via picture alliance

Die Geschichte des heutigen Tétouan beginnt erst nach dem Ende der muslimischen Herrschaft in Andalusien im Jahr 1492. Die Stadt wurde im fünfzehnten Jahrhundert von Sidi Ali Al-Mandari gegründet. Al-Mandari war vor der katholischen Reconquista aus Granada geflohen und ließ sich wie viele Einwanderer aus Andalusien in Tétouan nieder. Zwischen 1912 und 1956 war Tétouan die Hauptstadt des spanischen Protektorats in Nordmarokko und der Sahara. Das spanische Viertel war als Hauptstadt, als »capitale méditerranéenne« gebaut worden. Die Stadt ist also untrennbar mit der Geschichte Spaniens, der arabischen Welt, speziell des Maghreb, und Afrikas der letzten 500 Jahre verwoben.

Heute arbeiten Handwerker in der Medina, Händler bieten ihre Waren an und Bewohner und Touristen flanieren durch die engen Gassen. Trotz ihres Status als Weltkulturerbe ist Tétouans Medina also kein Museum. Dieses »geteilte« Erbe zu erhalten, heißt auch geteilte Verantwortung anzunehmen.

Ein Projekt, das Marokko und Europa verbindet, ist die gemeinsame Restaurierung der Altstadt Tétouans. Zu den historischen Denkmälern zählen die Stadtmauer, die Türme, der historische Friedhof, Straßen, Gassen, Moscheen, Häuser und die Zaouias, die Versammlungshäuser von Bruderschaften. Das andalusische Erbe ist aber nicht nur materieller Natur. Auch in der populären Musik, der lokalen Küche und der traditionellen Kunst haben die andalusischen Einflüsse Spuren hinterlassen.

Bereits seit 25 Jahren fördert die Regionalregierung Andalusiens gemeinsam mit spanischen Partnern Restaurierungen in Tétouans Medina und der Ensanche, dem spanisch-kolonialen Stadtteil. Auch marokkanische Institutionen haben in den letzten Jahren viel restauriert, dazu zählt das Projekt König Mohameds VI aus dem Jahr 2011.

Probleme bei den Restaurierungsarbeiten gibt es meiner Ansicht nach vor allem aus verwaltungstechnischen Gründen. Der öffentliche Diskurs über die historische Bausubstanz ist nicht nur in Tétouan, sondern in allen marokkanischen Städten wichtig, eine Strategie für die Erhaltung der Medinas fehlt bislang. Verwaltungsvorschriften sind aufwendig und kompliziert, so dass nur wenige Projekte die Umsetzungsphase erreichen. Dazu kommt eine mangelhafte Koordination zwischen den lokalen und der nationalen Verwaltungsebene. Viele Verwaltungsbeamte haben keine Erfahrung in der Feldforschung, nur wenige der für die Restaurierungsprojekte zuständigen Mitarbeiter sind Experten. Und schließlich fehlt eine effiziente Kontrolle der Projekte. Mittel können nicht im erforderlichen Umfang aufgebracht oder nicht ausgegeben werden. Teilweise gibt es auch Eigeninteressen der Projektpartner.

Damit die Restaurierungsbemühungen in Tétouan auch für europäische Touristen sichtbar werden, wurde ein Architekturspaziergang eingerichtet, bei dem die Besucher die Besonderheiten Tétouans kennenlernen.

Restaurierung und traditionelles Handwerk

Das Restaurierungsprojekt des Vereins »Tétouan Asmir« könnte zum Vorbild für die Erhaltung weiterer Kulturerbestätten in Marokko werden. Die Tétouans ist fünfhundert Jahre alt, daher wurden genau fünf Häuser, eines aus jedem Jahrhundert, ausgewählt. Alle Gebäude waren unbewohnte Ruinen. Wir untersuchten die Häuser gründlich, um die charakteristischen Baumaterialien und -techniken miteinander zu vergleichen und die Entwicklungsgeschichte der Architektur in der Medina zu erforschen. Dabei funktionierten die Häuser wie ein Labor. Wir konnten die traditionellen Methoden für das Herstellen von Kalkputz, Farben, Lacken und Fliesen, der Zullayj, rekonstruieren. Tétouani-Keramik wurde vor allem in Innenhöfen, an Säulen und Brunnen verwendet. Sie zeichnet sich durch ihre leuchtenden Farben und die Vielfalt ihrer geometrischen Formen aus. Besonders verbreitet war sie während des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Für Tétouan charakteristische Bauelemente sind Bögen, Säulen, Brunnen oder die Schmiedearbeiten der Shemasa, der meist zum Innenhof hin angebrachten Öffnungen für besseren Luftaustausch und Lichteinfall.

Das andalusische Erbe ist nicht nur materieller Natur. Auch in der populären Musik, der lokalen Küche und der traditionellen Kunst haben die andalusischen Einflüsse Spuren hinterlassen.

Zahlreiche Probleme hingen mit undichten Dächern und dadurch entstandene Wasserschäden zusammen. Nach den Dächern wurden die Gebäude selbst wieder hergestellt, außerdem das traditionelle Wasserversorgungssystem, die moderne Abwasserentsorgung, das Strom- und das Telefonnetz. Fast alle verwendeten Materialien kommen aus der Region, so sind sie günstig und verursachen keine zusätzlichen Transportkosten.

Wasser ist in allen marokkanischen Altstädten ein kostbares Gut, auch in der Medina von Tétouan. Die meisten Häuser sind heute zwar an das moderne Trinkwassersystem angeschlossen, dennoch soll ein Blick auf die traditionellen Wasserverteilungssysteme zeigen, wie schwierig und aufwändig die Restaurierung war. Das Wasser aus dem Skundo-System kommt von Quellen am Berg Dersa und fließt in Röhren aus gebranntem Ton unterirdisch durch alle Viertel der Medina. Das System existiert seit fünf Jahrhunderten und ist sehr komplex. Alle restaurierten Brunnen werden mit Skundo-Wasser gespeist. In einem der fünf Häuser befand sich eine Matfiya, eine unterirdische Zisterne, in der das Regenwasser gespeichert wurde. Früher wurde das Wasser mit Eimern an die Oberfläche geholt, heute werden auch Pumpen eingesetzt. In einem der Häuser aus dem 17. Jahrhundert wurden sechs Bwate restauriert. Das sind große Tongefäße, in denen Regenwasser gesammelt wird.

Nachhaltige Nutzung 

Damit die restaurierten Häuser nicht erneut dem Verfall ausgesetzt sind, sollten sie direkt genutzt werden. Viele Häuser sind heute Riads, kleine Hostels. Zu den zwei bis vier Schlafräumen in der ersten Etage kommen die Rezeption und die Caféteria im Erdgeschoss. Diese Vorgehensweise bei der Restaurierung hat den Vorteil, dass wir das Weltkulturerbe erhalten, Arbeitsplätze schaffen und über die touristische Nutzung gleichzeitig Geld generieren. Wir hoffen, dass unser Projekt ein Modell sein kann für vergleichbare Projekte in den Medinas anderer Städte wie Chefchaouen, Tanger, Larache, Ouezzane oder Al Hoceïma im Norden Marokkos.

Patio eines Riads in der Medina von Marrakesch, Marokko, Afrika.
Blick auf den Patio eines Riads, Foto: imageBROKER / KFS via picture alliance
Über den Autor
M’hammad Benaboud
Hochschulprofessor und Historiker

Prof. M’hammad Benaboud lehrt als Historiker an zahlreichen Universitäten, ist Korrespondent der Real Academia Española in Madrid und Mitglied der Stiftung Wissensraum Europa - Mittelmeer sowie Präsident der Tetouan Asmir Association.