Die Weisheit der europäischen Öffentlichkeit

Die europäische Öffentlichkeit wurde wenig in die politische Entscheidungsfindung zur Eindämmung der Corona-Pandemie einbezogen. Dabei gebe es schon jetzt genügend routinemäßige Formen, die Öffentlichkeit mit minimalem Aufwand rasch einzubinden, meint Anatol Itten.

Vor genau 15 Jahren, als sich die Finanzkrise gerade zusammenbraute, bereitete ich meine Abreise aus Schweden vor. In der Zeit, als ich meine Koffer aus dem Erasmus-Austausch packte, konnte ich mit meinem Freund Robin Karlestedt eine letzte Arbeit schreiben. Da wir uns beide als junge Europäer fühlten, dachten wir intensiv darüber nach, was nötig wäre, um einen europäischen Demos zu schaffen, eine transnationale politische Beziehung zwischen Individuen. Damals war das eher eine Nischendebatte im größeren Kontext des Demokratiedefizits der EU. Als wir zu den negativ verlaufenen Referenden gegen die Europäische Verfassung im Jahr 2005 in den Niederlanden und Frankreich sowie zu den wiederkehrenden Protesten europäischer Landwirte in Brüssel forschten, kamen wir zu dem Schluss, dass ein Gesellschaftsvertrag zwischen den EU-Institutionen und ihren Bürgern nie wirklich zustande gekommen war.

Die Theorie des Gesellschaftsvertrags besagt, dass Individuen entweder explizit oder implizit zugestimmt haben, einige ihrer Freiheiten aufzugeben und sie einer Autorität (in diesem Fall der Europäischen Union) zu überlassen, im Austausch gegen den Schutz ihrer Bürgerrechte und der Rechte anderer. Wenn diese Instanz nicht den besten Interessen der Gesellschaft dient, wie es zum Beispiel im „allgemeinen Willen“ von Rousseau geschrieben steht, können die Bürger im Sinne der gegenseitigen Verpflichtung des Gesellschaftsvertrags ihre Gehorsamspflicht zurückziehen oder die Führung durch Wahlen oder andere Mittel verändern.

Als überzeugte, aber auch etwas naive Studenten der europäischen Integration glaubten wir, dass die Proteste, die verschiedenste Landwirte aus allen Teilen Europas mobilisierten sowie die beiden negativen Referenden in den Niederlanden und Frankreich tatsächlich eine Dynamik für einen neuen Gesellschaftsvertrag auslösen könnten. Wenn die EU in der Lage wäre, gegnerische Bewegungen gegen ihre Pläne zu unterstützen, so dachten wir, würde dies in Wirklichkeit der EU helfen, ihre Politik in Einklang mit dem zu gestalten, was die Bürger bereit waren, der EU gegenüber (an Freiheiten) aufzugeben im Gegenzug für persönliche oder gesellschaftliche Vorteile. Um dies zu erreichen, so überlegten wir, müssten die EU-Mitglieder die Beteiligung der Bürger an der EU-Politik, die sich direkt auf das Leben ihrer Wählerschaft auswirkt, und die entsprechenden Überlegungen fördern.

 

Instrumentalisierung der Krise

Spulen wir in die Gegenwart vor. Nach dem Ausbruch von Corona im ersten Quartal 2020 arbeiteten die europäischen Regierungen ständig im Notfallmodus und konzentrierten die Entscheidungsgewalt an der Spitze der Pyramide. Virusbezogene Politik wurde ad hoc ausgehandelt, wobei parlamentarische Systeme in einigen Ländern Europas weitgehend umgangen wurden. Wissenschaftler wie Cas Mudde, ein niederländischer Politikwissenschaftler, der sich mit politischem Extremismus und Populismus in Europa und den Vereinigten Staaten befasst, warnten vor autoritärem Machtstreben, zum Beispiel des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der das Coronavirus nutzen könnte, um „den letzten Nagel in den Sarg der angeschlagenen Demokratie des Landes zu schlagen.“

Es ist nicht überraschend, dass sich erhebliche Unterschiede in der Einstellung der Menschen zur Corona-Politik herausbildeten. Undurchsichtige, uneinheitliche und voreilige Entscheidungen in ganz Europa führten zu einer politischen Kakophonie, die in einigen Teilen der Bevölkerung für Unbehagen und Unordnung sorgte. Wie wäre es mit ein paar Beispielen aus dem letzten Jahr?

Seit dem Ausbruch von Corona im ersten Quartal 2020 arbeiten die europäischen Regierungen ständig im Notfallmodus und konzentrieren die Entscheidungsgewalt an der Spitze der Pyramide.

Heftige Proteste in Serbien verhinderten einen geplanten zweiten Lockdown; die deutsche Regierung kündigte einen Lockdown zu Ostern an und nahm dies innerhalb kürzester Zeit wieder zurück, und in Italien schleuderten Demonstranten Molotowcocktails und Steine gegen Bereitschaftspolizisten, die Tränengas einsetzten. Das Gute daran ist, dass wir aus dieser chaotischen europäischen Vorgehensweise ein paar Dinge lernen können.

  • Erstens: Proteste können zwar ein wirksames Mittel sein, um Unzufriedenheit zu zeigen, aber wir sollten uns nicht einbilden, dass diese Proteste wirklich die Präferenzen der Gesellschaft als Ganzes widerspiegeln (zumindest so lange, bis dies wirklich bewiesen ist).
  • Zweitens: Der ständige Wechsel zwischen vollständigen „Lockdowns“ und vollständigen „Wiedereröffnungen“ (nur um die Schließungen wieder vozunehmen) wirkte in einigen Ländern Europas willkürlich und sorgte für politische Unzufriedenheit. Die einen verwiesen auf die Vor- und Nachteile des schwedischen Laissez-faire-Ansatzes, die anderen auf die strengeren französischen Maßnahmen oder die slowakischen Massentests hin.
  • Drittens, und das ist der wichtigste Punkt: Die europäische Öffentlichkeit wurde nicht sinnvoll in die politische Entscheidungsfindung zur Eindämmung von Corona einbezogen. Selbst routinemäßige Formen, die Öffentlichkeit mit nur minimalem Aufwand rasch zu beteiligen, wurden kaum eingesetzt. Dies ist umso bemerkenswerter, da in der Literatur über Gesundheitskatastrophen immer wieder empfohlen wird, die Öffentlichkeit zu beteiligen.

Statistiken zeigen, dass die Risiken während einer Epidemie zu einem stärker betroffenen Opfer zu werden, in der Gesellschaft ungleichmäßig verteilt sind. Das heißt, je nach Geldbeutel, sozialer Schicht, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und sozialer Einbindung ist es wahrscheinlicher, dass man Schaden nimmt bzw. sich schneller erholt als andere. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht in die Lage versetzt werden, sich an Gesundheitsmaßnahmen zu beteiligen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass blinde Flecken entstehen, obwohl die Maßnahmen oft eine einheitliche Herangehensweise verlangen.

Empirische Belege zeigen zudem, dass die Öffentlichkeit Risiken in ihrem eigenen Kontext kalkuliert und rechtfertigt. So haben etwa Verkehrsforscher der TU Delft herausgefunden, dass Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen Anordnungen zur Selbstquarantäne und Reisebeschränkungen häufiger ignorierten, da ihre relativen Einkommensverluste höher waren als bei anderen Einkommensgruppen.

Gleichwohl waren die Bürger alles andere als teilnahmslos. Viele Probleme isolierter und älterer Haushalte wurden durch selbstorganisierte Hilfe unzähliger Freiwilligen-Projekte angegangen. In Ermangelung staatlicher Maßnahmen beschlossen die Bürger, ihre eigenen COVID-19-Maßnahmen zu organisieren. Es wäre völlig kurzsichtig, die Öffentlichkeit als eine panische Menge zu behandeln, die kontrolliert werden müsse.

 

Links und rechts langen Arme mit Gummihandschuhen ins Bild und halten einen Globus mit dem Post-it "Covid-19" .
Statistiken zeigen, dass die Risiken während einer Epidemie zu einem stärker betroffenen Opfer zu werden, in der Gesellschaft ungleichmäßig verteilt sind, Foto: Anna Shvets via pexels

In den Niederlanden ist es uns unter der Leitung meines Kollegen Niek Mouter gelungen, fast 30.000 Bürger in die Bewertung verschiedener Lockdown-Lockerungsmaßnahmen einzubeziehen, und in Belgien wurden mehr als eine Million Bürger zu ihrem Corona-Verhalten befragt, was der Regierung bei der Feinabstimmung ihrer Maßnahmen geholfen hat.

Leider handelt es sich hierbei um Ausnahmen, meist um einmalige Experimente, die nur selten anzutreffen sind. Die Öffentlichkeit in das Krisenmanagement einzubeziehen, scheint für Spitzenbeamte eher ein Alptraum zu sein.

In einer repräsentativen Umfrage unter 1.200 niederländischen Bürgern im Sommer 2021, mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie, haben wir herausgefunden, dass durchschnittlich 54 Prozent der Teilnehmer glauben, dass es „eine globale Elite gibt, die die Welt für ihre eigenen Interessen regiert“ und 52 Prozent glauben, dass „Regierungsbehörden alle Bürger genau überwachen“, 36 Prozent sagen eher ja als nein, dass „ein globaler Plan namens Great Reset im Gange ist, der von Klaus Schwab vom Weltwirtschaftsforum (WEF) formuliert wurde, um die gesamte Menschheit zu versklaven“, und jeder Vierte sagt eher ja als nein, dass „das COVID-19-Impfprogramm ein Vorwand von Bill Gates ist, um Mikrochips zur Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung zu implantieren“

Bei den Anhängern solcher Verschwörungstheorien gibt es keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Bildung, Alter oder Geschlecht derjenigen, die diese Fragen beantwortet haben.

Schnellvorlauf um 15 Jahre in die Zukunft

Dabei geht es auch anders. Politische Entscheidungen in ganz Europa, die schwierige Kompromisse mit sich bringen, werden von Hunderttausenden von Menschen auf Online-Plattformen diskutiert, zumeist auf respektvolle und nachdenkliche Weise. Basierend auf Technologien zur Texterstellung und Verarbeitung natürlicher Sprache nutzen die europäischen Bürgerinnen und Bürger „Text- und Sprachfilter“ (ähnlich wie Fotofilter), die ihre Rhetorik und die Qualität ihrer Argumente verbessern, damit das, was sie sagen, flüssiger und ansprechender für andere Teilnehmer klingt. Jeder kann seine Argumente somit poetisch, witzig oder intellektuell formulieren.

Unterstützende Technologien wie das maschinelle Lernen helfen dabei, diese Diskussionen zu verwalten, indem sie nicht nur riesige Mengen an Informationen und Themen sortieren, sondern auch nuancierte Interventionen von Moderatoren imitieren, wie z. B. provokante Inhalte neu zu formulieren, Perspektiven zu spiegeln, zirkuläre Fragen zu stellen oder den Anwalt des Teufels zu spielen. Um Empathie zu erzeugen, würde ein automatisierter Moderator-Bot die Teilnehmer beispielsweise auffordern, über die Bedürfnisse eines Bewohners ihrer Gemeinschaft nachzudenken und zu überlegen, ob sie glauben, dass dieser Bewohner ihren Argumenten eher zustimmen oder sie ablehnen könnte.

Politische Entscheidungen in ganz Europa, die schwierige Kompromisse mit sich bringen, werden von Hunderttausenden Menschen auf Online-Plattformen diskutiert.

Um respektvolle Diskussionen zu fördern und die Polarisierung abzuschwächen, sind Algorithmen außerdem nicht mehr binär, wenn es darum geht, Inhalte der politischen Opposition anzuzeigen oder zu verbergen. Sie zerlegen die Behauptungen der Gegenseite und regen die Menschen dazu an, über den Wahrheitsgehalt solcher Behauptungen zu diskutieren. Anschließend beziehen die Algorithmen die Ergebnisse dieser Diskussionen in ihre Rankings in den sozialen Medien ein, um Desinformation zu verringern.

Es gibt auf Belohnung basierende Ansätze, die Anreize dafür bieten, einen Konsens zu erzielen, kollektiv zu handeln oder die Nutzer dazu zu bewegen, höflicher zu agieren. Um zu verhindern, dass Teilnehmer manipuliert oder zu politisch gewünschten Ergebnissen gedrängt werden, sind diese Diskussionsplattformen in dezentralen Netzwerken organisiert.

 

Algorithmisches Orakel

 Diese Netzwerke würden auch eine Grundlage für eine vorausschauende Politikgestaltung bieten: Anhand einer riesigen Menge von Stimmungen, Werten und Argumenten könnten Algorithmen vorhersagen, ob eine bestimmte Politik in der Öffentlichkeit Unterstützung finden würde und unter welchen Bedingungen bzw. welche Gruppen sie am stärksten befürworten oder ablehnen würden. Noch ausgefeiltere Systeme würden eine Reihe von Maßnahmen generieren, die am meisten Zuspruch finden (oder auf weniger Widerstand stoßen).

Algorithmische Argumentations- und Vermittlungssysteme sind keine Utopie, sondern entstehen bereits seit einem Jahrzehnt. Zwar sind die USA in diesem Forschungsbereich führend, aber auch europäische Wissenschaftler sind aktiv. Sie könnten möglicherweise endlich die transnationalen politischen Beziehungen zwischen europäischen Individuen herstellen, nach denen wir als Studenten vor 15 Jahren gesucht haben.

Von links reichen Hände ins Bild. Sie schreiben so schnell, dass sie verwischen.
Politische Entscheidungen in ganz Europa, die schwierige Kompromisse mit sich bringen, werden von Hunderttausenden von Menschen auf Online-Plattformen diskutiert, Foto: CottonBro Studio via pexels

Wenn nicht, dann würden sie zumindest eine solide Grundlage schaffen, um Massen von Menschen zu verbinden, in künftige Krisenentscheidungen einzubeziehen und damit Lösungen aus der Weisheit der europäischen Öffentlichkeit zu schöpfen.

Da wir uns bewusst sind, dass die Technologie oft wiederholt, was in der Gesellschaft vor sich geht, sind diese Systeme noch lange nicht perfekt, vor allem, was die Art des Designprozesses, die Diskriminierung und die Einbeziehung der Bedürfnisse von Nutzern angeht. Es braucht immer noch Experimente, Mitgestaltung und eine bessere algorithmische Vermittlung.

Politische Entscheidungsträger sollten neue Technologien für Partizipation und Beratung nutzen, um den Longtail politischer Ideen zu nutzen (ein Begriff, den der MIT-Wissenschaftler Mark Klein über die Verteilung politischer Ideen geprägt hat), d. h. eine kleine Anzahl von Ideen wird von der Mehrheit der Bürger eingebracht, während die große Anzahl von Ideen von einer Minderheit der Bürger eingebracht wird, daher der Longtail. Diese „kleinen Stimmen“, die in der Vergangenheit nicht gehört wurden, sind ein wichtiger Katalysator für eine größere Vielfalt an Ideen, die die politischen Entscheidungen im Europa des 21.Jahrhunderts prägen.

Über den Autor
Anatol Itten
Politikwissenschaftler

Anatol Itten ist Mitbegründer des Disrupted Societies Institute in Amsterdam, Post-Doktorand am Lehrstuhl für Organisation und Governance an der Technischen Universität Delft sowie Dozent für politische Theorie an der Universität Stuttgart. Seine Forschung dreht sich um Co-Creation und digitale Massenbeteiligung von Bürgern an Regierungsentscheidungen.

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