Illustrationen: Spielkonsole mit Schlüssel

Ein Wendepunkt in Sachen KI und Videospiele für Künstler und Aktivisten

Nicht nur Künstler:innen, auch die Zivilgesellschaft und die Politik müssen sich damit befassen, dass künstliche Intelligenz und Videospiele globale Bedeutung für Kunst, Aktivismus und Kulturdiplomatie erlangen.

Das Video erwacht zum Leben. Ein blauer Funke schwirrt über den Bildschirm, untermalt von epischen Sätzen, die über den gerenderten Bildern widerhallen. Der Funke landet auf einer Steinsäule, hebt dann wieder ab, landet erneut und verwandelt sich in leuchtende humanoide Figuren, die sich erheben und vorwärts schreiten.

Vergessen Sie Candy Crush. Hier kommt Biskaabiiyaang.

Das Video ist ein Trailer für "Biskaabiiyaang: Das indigene Metaverse", eine kollaborative Arbeit zur Förderung und zum Schutz indigener Sprachen durch ein von indigenen Völkern gestaltetes Metaverse. Videospiele erfreuen sich weltweit großer Beliebtheit. Sie werden von Milliarden Menschen gespielt und sind eine Bühne für tiefgründige Geschichten und künstlerischen Ausdruck. Wie "Biskaabiiyaang" zeigt, können sie auch ein phantastisches Instrument für die Bewahrung, Förderung und das gemeinsame Verständnis von Kultur sein.

Nach der Einschätzung von Manouchehr Shamsrizi, dem Sozialunternehmer, Politikberater, Mitbegründer des gamelab.berlin im Exzellenzcluster der Humboldt-Universität zu Berlin und Experten für Spiele und Metaverse des Instituts für Auslandsbeziehungen, haben viele Künstler, Aktivisten und politische Entscheidungsträger jedoch immer noch erhebliche Wissenslücken, wenn es um so zentrale Technologien wie Videospiele und künstliche Intelligenz (KI) geht.

Diese Technologien beinhalten große Gefahren und Chancen zugleich und erfordern ein sofortiges, intensives und nachhaltiges Engagement von Künstlern, Aktivisten und politischen Entscheidungsträgern. Nur auf dieser Grundlage können diese Technologien ihr ganzes Potenzial als Plattformen für freien künstlerischen Ausdruck entfalten.

"Gaming ist der Schlüssel zum Verständnis dieser Technologien", so Shamsrizi im Gespräch mit dem Diplomatic Courier. "Wenn es uns gelingt, diese Wissenslücken zu schließen, können wir das Potenzial dieser digitalen Technologien nutzen und ihre Risiken verringern."

Shamsrizi ist einer der Teilnehmer an der jüngsten Tagung des Salzburg Global Seminar, "On the Front Line: Artists at Risk, Artists Who Risk" (“An vorderster Front: Künstler in Gefahr, Künstler, die etwas riskieren”). Das SGS versammelte vom 25. bis 30. März 2023 mehr als 50 Künstler, Aktivisten und deren Verbündete aus über 40 Ländern an seinem Sitz im Hotel Schloss Leopoldskron in Salzburg, Österreich. Eines der Themen: technologische Lösungen, mit einem starken Fokus auf Videospiele und KI.

Garbage In, Garbage Out?

In letzter Zeit vergeht kaum eine Woche ohne neue Nachrichten über KI. Bedeutende Fortschritte auf diesem Gebiet bei verschiedenen Tech-Firmen haben dazu geführt, dass vor Kurzem generative KI zur allgemeinen Verwendung freigegeben wurde, darunter ChatGPT von OpenAI und Bard von Google.

Künstliche Intelligenz ist ein mächtiges Werkzeug. Der Großteil der KI basiert derzeit auf sogenannten großen Sprachmodellen (large-language models oder LLMs). Eine generative KI ist im Grunde eine hochentwickelte Prognosemaschine, die ihre Fähigkeiten und ihre Kenntnis eines großen Bestandes an vorhandenen Texten nutzt, um das passendste nächste Wort in ihren Antworten auf natürlichsprachliche Anfragen vorherzusagen, und dies teilweise mit einer geradezu unheimlichen Genauigkeit, die staunen macht.

Die Gespräche bei der Tagung "On the Front Line" umfassten auch Diskussionen über die Nutzung von KI durch Künstler und andere. Die Öffentlichkeit hat zwar in zunehmendem Maße Zugang zu leistungsstarker KI, aber wir befinden uns noch in den Anfängen der KI-Entwicklung und müssen uns mit den Mängeln, Schwächen, Fallstricken und Möglichkeiten dieser Technologie auseinandersetzen. Eine der Schwachstellen sind eben jene großen Sprachmodelle, auf denen solche künstlichen Intelligenzen beruhen. Einige Teilnehmer äußerten ihre Besorgnis darüber, dass solche Modelle oft rassistische und frauenfeindliche Sprache und Denkweisen sowie historische Vorurteile enthalten, die sie nach dem Prinzip “garbage in, garbage out” (“wo Müll eingefüllt wird, kommt Müll heraus”) dann auch reproduzieren.

Eine Teilnehmerin, die KI-Forscherin, Autorin und Künstlerin Kira Xonorika, war der Auffassung, dass die KI einem "Prozess des Debiasing" unterzogen werden muss, um solche kognitiven Verzerrungen zu beseitigen.

“Um diesen Prozess des Debiasing einzuleiten und eine wahrhaft gerechte Welt zu erschaffen, benötigen wir dringend die Mitarbeit von People of Color, Schwarzen Menschen, indigenen Menschen, Trans-Menschen, intersexuellen Menschen und all denen, die von den makropolitischen Auswirkungen der Ausgrenzung betroffen sind", so Xonorika. ”Und die Interessenvertreter und die Menschen, die die Macht haben, müssen die Infrastruktur so verändern, dass diesen Bevölkerungsgruppen echte Priorität eingeräumt wird, damit wir anfangen können, die Verhältnisse hin zu mehr Ausgewogenheit zu verändern.”

Aber es gibt noch fundamentalere Probleme. KI ist für diejenigen, die nicht über die notwendigen Ressourcen zu ihrer Nutzung verfügen, mit erheblichen Hürden verbunden. Ihre Nutzung erfordert sowohl technologische Kompetenz, die durch den Zugang zu Bildung gefördert wird, als auch technologischen Zugang (Geräte, Internet, Strom). Beides steht nach wie vor nur einem Teil der Weltbevölkerung zur Verfügung.

Außerdem sind viele bildende Künstler äußerst besorgt darüber, dass KI-Modelle sich der Arbeiten von Künstlern bedienen und sie als Teil ihres Schaffensprozesses im Dienste anderer verwenden, sie also im Grunde plagiieren. Doch inmitten dieser Bedenken gibt es auch eine positive Sichtweise, die man weiterentwickeln könnte. Xonorika beschrieb die durch KI geschaffene Kunst als Kollaboration mit einem kollektiven Bewusstsein, einschließlich eines kooperativen Entwicklungsprozesses.

"Die Sichtweise, dass es sich hier um Plagiate handelt, ist geprägt von dem Narrativ ‘Die künstliche Intelligenz wird uns beherrschen’, das sich durch die westliche Science-Fiction der 40er bis 60er Jahre in unser Bewusstsein eingeschrieben hat", so Xonorika. "Wenn man diese Perspektive einnimmt, verschließt man sich der Möglichkeit zu verstehen, dass sich die KI in einem Lernprozess befindet.

Das Engagement von Branchenvertretern und politischen Entscheidungsträgern ist gefragt

Ein Großteil der Gespräche im Rahmen des "On the Front Line"-Programmpunktes zum Thema Videospiele und künstliche Intelligenz drehte sich um die Frage, was Künstler und Aktivisten tun könnten und sollten. Aber auch andere tragen in dieser Frage erhebliche Verantwortung, insbesondere die Gaming- und KI-Firmen selbst und die politischen Entscheidungsträger, von denen ein Großteil Schwierigkeiten hat, den technischen Entwicklungen zu folgen oder auch nur den neuesten Stand der Technik zu kennen. Um dieses Missverhältnis zu korrigieren, so Shamsrizi, müsse man die Kunstwelt und ihre Verbündeten, die in der Nutzung und Verteidigung traditioneller Kunstformen bereits geübt sind, verstärkt heranziehen.

Manouchehr Shamsrizi nannte eine Reihe wichtiger Schritte für politische Entscheidungsträger: 1) Beobachten, was in der Gamingbranche passiert, 2) Erkennen, Anhören und Entwickeln von internem Fachwissen in diesem Bereich, 3) Gleichstellung von Computerspielen mit anderen Künsten - als Plattform für Kultur und Diplomatie - und Schutz der Künstler, die die Spiele entwickeln.

Auch die Gaming-Branche hat noch einiges zu tun, so Shamsrizi.

"Ich glaube, die Gaming-Industrie steckt noch in den Kinderschuhen. Sie würde daher sehr vom Austausch mit Kulturtechniken oder Kunstformen und den damit verbundenen Gemeinschaften profitieren, die sich seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, mit solchen Fragen beschäftigen", sagt er. "Hier besteht also eine Lücke. Denn weder die Vertreter traditioneller Kunstformen noch die Gaming-Communities waren bisher stark an einer Zusammenarbeit interessiert. Natürlich gibt es auch ein paar Gegenbeispiele. Aber wir sind noch nicht da angekommen, wo wir sein sollten."

Die in diesem Artikel dargestellten Ansichten sind die des Autors und geben nicht notwendig die Ansichten anderer Organisationen wieder.

Übersetzt von Caroline Härdter

Der Originalbeitrag wurde veröffentlicht im Diplomatic Courier.

Über den Autor
Jeremy Fugleberg
Redakteur, Berichterstatter, Korrespondent

Jeremy Fugleberg ist Mitredakteur und Redakteur für Sonderthemen beim Diplomatic Courier. Er ist ein erfahrener Journalist mit Fachkenntnissen in den Bereichen Energie, Gesundheitswesen und dem Zusammenspiel zwischen der US-Innenpolitik und internationalen Beziehungen.