Illustration: Ein Mann in der Wüste steckt in der einen Düne den Kopf in Sand und schaut sich aus der anderen Düne heraus selbst an.

Großmachtverantwortung und Selbstkritik

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan stehen die deutsche und europäische Außenpolitik vor einer Sinnkrise: Großmachtverantwortung muss neu definiert werden. Diese Herausforderung verlangt weitaus mehr als eine neue Außenpolitik.

Der militärische Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan und die erneute Machtübernahme der radikal - islamistischen Taliban, die im Jahr 2001 aus Kabul vertrieben worden waren, hinterlassen im Westen – in Nordamerika ebenso wie in Europa – eine Art Sinnkrise, die man zugleich als ein Sinnvakuum beschreiben kann. Die längst überfällige Standortdebatte zum politischen Beitrag Europas für die Welt will einfach nicht in Gang kommen. Die von der deutschen Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann in den 1990er Jahren getroffene Feststellung, dem wiedervereinten Deutschland fehle eine außenpolitische Diskussionskultur, ist heute noch aktuell. Der geopolitische Kompass, so er denn je in den letzten Jahrzehnten vorhanden war, scheint insbesondere der deutschen Außenpolitik völlig abhandengekommen zu sein.

Wie soll „Verantwortung“ in Zukunft definiert werden?

20 Jahre deutsche militärische Präsenz in Afghanistan und nicht nur das Land am Hindukusch ist wieder dort, wo es einmal war. Auch Deutschland und Europa haben an der Seite der Vereinigten Staaten eine Niederlage erlitten. Die Schmach dieser Niederlage besteht aber weniger, wie vielfach behauptet, im militärischen Bereich, also im vergeblichen Versuch, die Taliban von der Macht fernzuhalten, sondern in der völligen Unfähigkeit des Westens, die eigene Außen- und Interventionspolitik in moralischer Hinsicht selbstkritisch einzuordnen. Eine Debatte über unseren eigenen Neokolonialismus findet viel zu wenig statt – dabei wäre sie so dringend erforderlich, wenn Verantwortung nicht weiterhin verdrängt oder fehlinterpretiert werden soll.

Eine Debatte über unseren eigenen Neokolonialismus findet viel zu wenig statt – dabei wäre sie so dringend erforderlich, wenn Verantwortung nicht weiterhin verdrängt oder fehlinterpretiert werden soll.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat immerhin vor den Vereinten Nationen jüngst an die Verantwortung der Großmächte appelliert. Er tat dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Deutschland seit Jahrzehnten einen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt. Steinmeiers Appell ist gut gemeint, bleibt in seiner Ausführung aber ebenso nebulös wie die gesamte deutsche Außenpolitik.

Wie genau soll „Verantwortung“ in Zukunft definiert werden? Der Bundespräsident ermahnt Iran, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, und China, sich an die Menschenrechte zu halten. Aber was ist mit der von Steinmeier angedeuteten Erweiterung militärischer und diplomatischer Spielräume gemeint? An was denkt er, wenn er von der Hand des ausgestreckten Zeigefingers spricht, die auf einen selbst zurückverweist, auf die eigene Verantwortung, sich mehr zu engagieren in der Welt?

Eine transparente und demokratische Außenpolitik

Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die sehr vagen Reformideen der Politik mit konkreten Handlungsoptionen zu versehen und öffentlich zu verhandeln. Außenpolitik muss in Zeiten der Globalisierung transparenter – und ja: demokratischer! – werden, wenn die um sich greifende Sinnkrise mit Blick auf die eigene Positionierung in der Welt bewältigt werden soll.

Illustration: Ein Mann in der Wüste, schaut von einer Düne auf die grüne Welt, die sich von oben herabsenkt
Was sind „Großmächte“ heute überhaupt noch? Foto: CDD20 via unsplash

Dass sich seit dem Ende des Kalten Krieges (seit 1989) immer weniger Menschen in westlichen Ländern für internationale Fragen interessieren und die wenigen Ausnahmen von dieser Regel vor allem die terroristischen Akte des 11. September 2001, den Irakkrieg 2003 oder den aktuellen Ukrainekrieg betrafen, ist empirisch gesichert – nur scheint auch diese paradoxe Wendung der Globalisierung kaum jemanden zu interessieren. Die Abkehr von den Weltproblemen, die viele Menschen eher achselzuckend den politischen Eliten überlassen, ist gefährlich, weil sie die Demokratie aushöhlt.

Dabei lässt sich in Afghanistan beobachten, dass die noch immer vitalen neokolonialistischen Reflexe der westlichen Außenpolitik ausgedient haben. Auf Steinmeiers Mahnung an die Verantwortung der Großmächte muss eine intensive Auseinandersetzung über die Frage folgen, was „Großmächte“ heute überhaupt noch sind und ob und wie sie sinnvoll eine internationale Friedensordnung garantieren können. Nach wissenschaftlichen Schätzungen unter anderem der Harvard University sind in Afghanistan seit der Invasion der USA und ihrer Alliierten, unter ihnen Deutschland, im Jahr 2001 mehr als 100.000 afghanische Zivilisten und Soldaten getötet worden.

Die Zahl der gestorbenen und verwundeten Soldaten aus Europa und den USA geht in die Tausende. Ein als humanitärer Einsatz legitimierter Krieg mit anschließender Besatzung hat sich damit selbst ad absurdum geführt. Jeder gut gemeinte Versuch, sich heute mit dem Schicksal der Menschen in Taliban-Afghanistan beschäftigen zu wollen, bleibt ohne eine Bewertung des eigenen militärischen Handelns moralisch folgenlos.

Jeder gut gemeinte Versuch, sich heute mit dem Schicksal der Menschen in Taliban-Afghanistan beschäftigen zu wollen, bleibt ohne eine Bewertung des eigenen militärischen Handelns moralisch folgenlos.

Dabei ist nichts überraschender als die jetzige „Überraschung“ weiter Teile der westlichen Öffentlichkeiten im Angesicht eben dieser vernichtenden Bilanz. Kritik und Mahnungen aus den Reihen der Wissenschaft und Zivilgesellschaft hat es von Anbeginn in großem Umfang gegeben. Schon kurz nach Beendigung der ersten Kriegsphase war klar, dass die Taliban nicht endgültig geschlagen werden könnten, dass die Zahl der Kriegstoten die Zahl der Opfer der Terrorattentate von New York und Washington weit übersteigen würde und dass die Demokratisierungsversuche in Afghanistan von einer vom Westen finanzierten manipulativen Elite als Herrschaftsmittel missbraucht wurden, die zum Beispiel Wahlen beliebig fälschte.

Machtdemonstration gegen den Terror

Die notwendige rasche Debatte und Kurskorrektur wurde von unterschiedlichen deutschen Regierungen, an denen alle bürgerlichen deutschen Parteien beteiligt waren, auf dem Altar einer angeblich notwendigen Machtdemonstration gegen den Terror geopfert, die doch das Problem selbst in Teilen erst geschaffen oder zumindest verstärkt hat (ohne das Machtvakuum in Irak nach 2003 wäre zum Beispiel der IS gar nicht entstanden).

Ohne Zweifel waren die Anschläge des 11. September 2001 eine Untat und eine Katastrophe epischen Ausmaßes. Aber eine polizeiartige Verfolgung von Usama Bin Ladin und Co. wäre die weitaus angemessenere Strategie gewesen als ein Krieg in Afghanistan – „war on terror“ (Bush), „uneingeschränkte Solidarität“ (Schröder) – und sicher als ein zweiter Krieg in Irak mit Hundertausenden von Toten, der Destabilisierung von politischen Systemen und einer endlosen Folge von Bürgerkriegen, die in Wahrheit Stellvertreterkriege der Großmächte gewesen sind. 20 Jahre für nichts, bestenfalls einer Generation von Afghanen eine Atempause verschafft: Ist das die Verantwortung der Großmächte, von der der deutsche Präsident spricht?

Afghanistan wurde noch in den 1960er Jahren als „Schweiz des Mittleren Orients“ und als ein Hort der Stabilität gehandelt. Viele Jahre lang übernahmen afghanische Botschaften in der Bundesrepublik die konsularischen Aufgaben für in Deutschland lebende Ägypter, deren Regierung nach den deutschen Waffenlieferungen an Israel die diplomatischen Beziehungen zur Bonner Republik abgebrochen hatte. In Kabul existierte ein parlamentarisches Zwei-Kammer-System – doch dann kamen die Großmächte mit der geballten Ladung ihrer Verantwortungslosigkeit.

20 Jahre für nichts, bestenfalls einer Generation von Afghanen eine Atempause verschafft: Ist das die Verantwortung der Großmächte, von der der deutsche Präsident spricht?

Die Wissenschaft weiß längst und der ehemalige Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzeziński, hat dies schon vor vielen Jahren öffentlich bekundet, dass die USA die Sowjetunion mit inszenierten Grenzübergriffen systematisch in die afghanische Falle lockte, was zur Invasion der UdSSR (1979-89) führte.

Indem die USA den Widerstand gegen Moskau militärisch bewaffneten, wollten sie dem Gegner im Kalten Krieg sein „Vietnam“ verschaffen; ein Plan, der schließlich auch aufging, als die Sowjetunion maßgeblich unter dem Druck des verlorenen Krieges in Afghanistan kollabierte. Es folgten Jahre des Bürgerkrieges in einem komplett erschütterten Land und schließlich eine weitere Invasion, dieses Mal der westlichen Alliierten.

Die Taliban, al-Qaida in Afghanistan und im Irak und im von Russland infiltrierten Syrien der IS entstanden buchstäblich in den Trümmern der von den Großmächten bekriegten Region. Natürlich gibt es auch zuhauf regionale Konfliktfaktoren. Nachbarn wie Pakistan spielen eine unheilvolle Rolle, ebenso Saudi-Arabien und die Golfstaaten, nur sind alle Regionalmächte – mit Ausnahme Irans – zugleich enge Verbündete des Westens.

Sich mit Diktaturen zu verbünden, um Staaten zu besetzen, die man dann angeblich beim Demokratieaufbau unterstützen will, war von vornherein ein fadenscheiniges Unterfangen. Die „Großmachtverantwortung“ Deutschlands hat in Afghanistan – bei aller Würdigung der humanitären Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und der fast 18 Milliarden Euro investierten Steuergelder – ihren machtpolitischen, neokolonialen Unterbau nie verleugnen können.

Illustration: Ein Mann in der Wüste steckt in einem Käfig, der vom Sand verschluckt wird.
Demokratieaufbau mit Diktaturen ist ein fadenscheiniges Unterfangen, Foto: CDD20 via unsplash

Gleiche Ziele – wechselnde Strategien

Über die Jahrzehnte sind die Ziele westlicher Staaten im Nahen und Mittleren Osten stets die gleichen geblieben. Es geht um die Sicherung von Ressourcen, die geostrategische Eindämmung oder um Geländegewinne vor allem gegenüber Russland und später auch China. Solche Horizonte werden in den USA und Europa nicht anders definiert als in Moskau und Peking, auch wenn die Strategien zur Erreichung dieser Ziele im Durchschnitt alle 20 Jahre zu wechseln scheinen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam zunächst die Ära der kolonialen Befreiungskriege mit ihren Kolonialkriegen (z.B. in Vietnam, Korea, Algerien, Ägypten, Kongo, Israel/Palästina), in deren Verlauf westliche Großmächte viele Millionen Menschenleben opferten. Seit den 1970ern Jahren folgte dann eine Phase der Entspannungspolitik, die aber zugleich eine Zeit der Eindämmungspolitik war, in der zum Beispiel der Irak gegen Iran aufgerüstet wurde. Der Golfkrieg von 1991 war dann der Vorbote einer nach den Attentaten vom 11. September 2001 vollzogenen Wende zur „humanitären Intervention“, die gegenwärtig zu enden scheint.

Wenn dies wirklich, wie die Konfliktforschung sagt, die friedlichste aller Zeiten ist, wird im Nachhinein deutlich, wie enorm kriegerisch doch die sogenannte „Nachkriegszeit“ in Wirklichkeit gewesen ist.

Es wäre naiv zu glauben, dass der Rückzug aus Afghanistan und Irak ein Zeichen der Isolation westlicher Staaten von der weltpolitischen Bühne sei. Viel wahrscheinlicher handelt es sich um eine erneute realpolitische strategische Wendung, die aber den immer gleichen Mustern eines scheinbar nie endenden Kalten Krieges folgt.

Syrien ist längst nicht befriedet, Afrika bleibt ein militärisches Operationsfeld Europas und in Südostasien setzen China und die USA Zeichen für eine neue Konfrontation. Wenn dies wirklich, wie die Konfliktforschung sagt, die friedlichste aller Zeiten ist, wird im Nachhinein deutlich, wie enorm kriegerisch doch die sogenannte „Nachkriegszeit“ in Wirklichkeit gewesen ist.

Allen Strategiewechseln zum Trotz hat die Welt – und in ihr Europa – eine dauerhafte und nachhaltige Wende zur kooperativen Außenpolitik und zur Weltinnenpolitik noch lange nicht vollzogen. Die Diplomatie garantiert ein Mindestmaß an globaler politischer Kommunikation, in ihr ist die Chance zu echter Weltgemeinschaftlichkeit angelegt. Zugleich aber bleibt sie ambivalent.

Illustration: Ein Mann in der Wüste versucht mit einem Lasso eine Wolke herab zu ziehen.
Wandel durch Annäherung, Foto: CDD20 via unsplash

Jeder Gewinn an globaler Integration – etwa im Bereich der Klimapolitik – wird an anderer Stelle durch nationalistische Alleingänge konterkariert. Das, was einmal „global governance“ werden sollte, lässt sich bis heute wissenschaftlich gar nicht exakt definieren. Internationale Politik bleibt die Kampfzone eines weitgehend desintegrierten Weltsystems, das man nur ungern als „Weltordnung“ bezeichnen möchte, weil es diesen Ausdruck kaum verdient.

Dabei sind Alternativen keineswegs schwer zu denken. Man muss die Ära der Entspannungspolitik im Kalten Krieg der 1970er Jahre nicht schönreden, um darin Ansätze wie die Willy Brandt’sche Ostpolitik zu finden, die auch heute als Leitfaden dienen können. Nicht im Bewusstsein der Stärke, sondern aus der Position der Schwäche heraus wurde die wohl beste deutsche Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht.

„Wandel durch Annäherung“ war ein Slogan, der aus der bitteren Erkenntnis heraus entstand, dass Deutschland zum Zentrum eines atomaren dritten Weltkriegs werden konnte und hat vielleicht mehr noch als die Hochrüstung des Westens dazu beigetragen, dass in der Sowjetunion ab Mitte der 1980er Jahre eine politische Transformation eingeleitet wurde.

Ostpolitik bedeutete eine Akzeptanz gegenüber realen politischen Verhältnissen, die Anerkennung des vermeintlichen „Feindes“ als Gesprächspartner bei gleichzeitigem Engagement für Menschenrechte wie auch für eigene politische Interessen. Dieser Leitfaden muss heute wieder an das Verhältnis westlicher Staaten zu Großmächten wie China aber auch zu autoritären Staaten wie Afghanistan unter den Taliban angelegt werden.

Aus der Erkenntnis der Schwäche heraus, in einem Land wie Afghanistan von außen keinen Demokratieaufbau betreiben zu können, muss eine abgestufte Außenpolitik entwickelt werden, die den Teufelskreis aus Krieg, Besatzung und doppelmoralischer Kooperation mit Diktatoren durchbricht und Transformationspartnerschaften sowie einen Dialog über Menschenrechte sowie enge Austauschbeziehungen ermöglicht.

Ostpolitik bedeutete eine Akzeptanz gegenüber realen politischen Verhältnissen, die Anerkennung des vermeintlichen „Feindes“ als Gesprächspartner bei gleichzeitigem Engagement für Menschenrechte wie auch für eigene politische Interessen.

Allein Russland unter Putin hat sich durch den Angriff auf die Ukraine für die Entspannungspolitik disqualifiziert. Mit allen anderen Großmächten aber wird der Westen umso intensiver an neuen Friedenslösungen arbeiten müssen.

Wo ist die außenpolitische Kultur?

Der Krieg in Syrien war viel zu lange ein Stellvertreterkonflikt der Großmächte, die nie wirklich an einer gemeinschaftlichen Lösung gearbeitet haben. Das gleiche gilt für alle anderen Konfliktherde vom Israel-Palästina-Konflikt über die Iranfrage und den Krieg in Jemen bis Afghanistan und Pakistan. Ist es so absurd, den Vorschlag zu durchdenken, den gesamten Konfliktbogen im Nahen und Mittleren Osten analog zum früheren OSZE-Prozess unter Beteiligung aller Akteure auf einer großen, dauerhaften Sicherheitskonferenz für den Nahen und Mittleren Osten anzugehen?

Warum verweist der deutsche Bundespräsident so vage auf die „Verantwortung“ der Großmächte, ohne solche oder andere konkreten Vorschläge zu machen? Wo ist außenpolitische Kultur geblieben, die die Bundesrepublik mit der „Ostpolitik“ Weltpolitik betreiben oder einen Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1980 in Bonn zum Vermittler in der iranisch-amerikanischen Geiselaffäre werden ließ?

Nach der offensiven Demokratieförderung der letzten Jahrzehnte in Afghanistan, die, bei aller Vermessenheit, immerhin von einer positiven Vision universeller Menschenrechte ausging, wird der Rückzug aus Afghanistan vielfach vom Unterton kultureller Stereotype begleitet.

Die Regierung von Angela Merkel, die in vielen Bereichen (Klima, Trump, Geflüchtete usw.) durchaus ihre Verdienste hat, ist gerade im Nahen und Mittleren Osten äußerst passiv geblieben. Man muss daran erinnern, dass Merkel lange zögerte, die Protestierenden in Ägypten gegen den Diktator Mubarak überhaupt zu unterstützen und dass sie die erste war, die den neuen Machthaber al-Sisi in Berlin begrüßte. Demokratieförderung? War das nur sehr bedingt. Großmachtverantwortung? Sieht anders aus. Auch wenn Deutschland allein keine Großmacht ist, ist es im westlichen Bündnis mitverantwortlich für die Definition von Großmachtpolitik.

Die Schwankungsbreite westlicher Handlungsmaximen im politischen Umgang mit der Welt ist atemberaubend. Vom realpolitischen Isolationismus eines Donald Trump, der sich von allen Konfliktfeldern zurückziehen wollte, über den partnerschaftlichen liberalen Internationalismus bis hin zum neokonservativen (und auch links-/liberalen!) Interventionismus, der in Afghanistan und im Irak scheiterte, ist hier alles zu finden.

Hinter solchen Ideologien aber stecken Menschenbilder, mit denen wir uns dringend auseinandersetzen müssen. Nach der offensiven Demokratieförderung der letzten Jahrzehnte in Afghanistan, die, bei aller Vermessenheit, immerhin von einer positiven Vision universeller Menschenrechte ausging, wird der Rückzug aus Afghanistan vielfach vom Unterton kultureller Stereotype begleitet. Können Muslime also doch keine Demokratie?

Illustration: Ein Mann in der Wüste beobachtet eine sprießende Pflanze.
Eine junge Generation sucht nach neuen politischen Ansätzen, Foto: CDD20 via unsplash

Dabei basieren sowohl die euphorisch-missionarischen Annahmen des Interventionismus als auch die kulturpessimistischen und bisweilen rassistischen Annahmen des Isolationismus auf vorschnellen Betrachtungen. Dass der Nahe und Mittlere Osten im Aufbruch ist, hat der Arabische Frühling bewiesen. Auch wenn dieser – wie auch die europäischen Revolutionen in der Vergangenheit – nicht im ersten Anlauf erfolgreich war, weisen viele Anzeichen etwa in Algerien oder im Sudan auf die Fortsetzung der Konfrontation alter Regime mit einer immer größer werdenden jungen Generation hin, die nach neuen politischen Ansätzen sucht.

 

Nicht einfach exportierbar

Einfach exportieren kann man politische Transformationen wohl nicht – Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Ausnahme, nicht die Regel. Die meisten Transformationen werden erfahrungsgemäß eher zwischen ehemals radikalen Kräften ausgehandelt. Die internationale Gemeinschaft, wenn sie sich diesen Namen verdienen möchte, muss hier einen Rahmen setzen, auf Waffenlieferungen verzichten, Stabilität einfordern, eben: Wandel durch Annäherung betreiben. Das mögliche Argument, dass sich die Erfahrung der Ostpolitik der 1970er Jahre nicht auf die heutige Zeit übertragen ließe, da die neue „Soft Power“ der chinesischen Entwicklungsdiktatur jeglichen Verhandlungsspielraum nehme, verkennt die Kraft der globalen Wirtschafts- und Sicherheitsverflechtungen, der sich auch China beugen muss.

Nationalstaatliche Transformationen, noch dazu in der postkolonialen Welt, bedürfen ihrer eigenen historischen Zeit und könnten von kluger Großmachtpolitik konstruktiv begleitet werden, ohne alle 20 Jahre manisch-depressive Schübe der Euphorie oder Depression über den Zustand der Welt zu durchleben. „Weniger Sendungsbewusstsein, sondern mehr Offenheit in der Suche nach Lösungswegen und Schnittmengen“, sagt Steinmeier zu Recht, könnte ein Leitfaden für eine nachhaltigere Transformationspartnerschaft sein.

All dies hat nicht nur etwas mit einer humanitären Haltung gegenüber der Welt zu tun, sondern auch mit einer realistischen Selbstverortung Europas. Der Anteil des Kontinents an der Weltbevölkerung sinkt ständig. Noch sichert die hohe Produktivität den Wohlstand, in der Warenproduktion wie auch im geistig-wissenschaftlichen Sektor. Ein großer Teil der Websites im Internet, um nur dieses eine Beispiel zu nennen, wird trotz der globalen Sprachenvielfalt im Netz noch immer in Europa und Nordamerika betrieben. Aber ohne vermehrte Einwanderung wird Europa die Zukunft nicht gestalten können, was nun wiederum zweierlei bedeutet.

Zwar sind die relevanten Einstellungen in Deutschland seit Jahren recht stabil, die Konflikte und Übergriffe – von der Hasskommunikation bis zur fremdenfeindlichen Gewalt – sind aber stärker geworden und heute weit verbreiteter als die ebenfalls konfliktverschärfenden islamistischen Anschläge.

Erstens werden sich europäische Staaten für die Transformation der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas einsetzen müssen, wenn sie Einwanderung als Regelform einer multikulturellen Gesellschaft und nicht als chaotisches Flüchtlingsmanagement selbst verursachter Kriege betreiben wollen.

Zweitens wird man den Rassismus in unserer Gesellschaft massiv und strukturell bekämpfen müssen. Zwar gibt es in unseren Breiten auch eine starke anti-rassistische Bewegung. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat in Deutschland zu von der Regierung Merkel geförderten erheblichen Anstrengungen der Rassismusbekämpfung beigetragen.

Dennoch zeigen der Erfolg der AfD und die eminent hohen Zustimmungswerte zu muslimfeindlichen Haltungen in der Breite der bürgerlichen Mitte in Deutschland, dass der Kosmopolitismus noch lange kein Konsens in der deutschen Gesellschaft ist. Stattdessen treffen gerade Einwanderer aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten in Deutschland überall auf eine gläserne Wand der Ablehnung: auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt, in den Bildungsinstitutionen wie auch im Feld der soziokulturellen Teilhabe (mit Kopftuch in der Disco) sind Diskriminierungserfahrungen an der Tagesordnung. Zwar sind die relevanten Einstellungen in Deutschland seit Jahren recht stabil, die Konflikte und Übergriffe – von der Hasskommunikation bis zur fremdenfeindlichen Gewalt – sind aber stärker geworden und heute weit verbreiteter als die ebenfalls konfliktverschärfenden islamistischen Anschläge.

Kulturelle Sackgasse

Hier nun aber wäre eine Brücke zwischen Außen- und Innenpolitik zu schlagen. Beide Dimensionen hängen in einer globalen Welt aufs Engste zusammen. Eine konsumistische Geisteshaltung in der Globalisierung, die sich vor einer Auseinandersetzung mit der eigenen neokolonialen Politik drückt, zugleich aber Produkte aus der ganzen Welt nutzt, nur um „das Fremde“ in populistischer Manier für seine Andersartigkeit und vermeintliche Minderwertigkeit zu verdammen, führt Europa in eine kulturelle Sackgasse.

Um beim Beispiel des Internets zu bleiben: Auch knapp drei Jahrzehnte nach dessen Einführung sind die allermeisten Menschen hierzulande mit der außereuropäischen Welt kaum vernetzt. Wir reisen virtuell auf den gleichen ethnozentrischen Pfaden wie auch in der realen Welt. Im Bereich des strukturellen Rassismus haben unsere Bildungsinstitutionen dringenden Nachholbedarf (von Polizei, Behörden und Militär ganz zu schweigen).

Illustration: Ein Mann in der Wüste sitzt an einem Teich und betrachtet die Spiegelung des Monds im Wasser.
Europas Verantwortung für die Welt liegt in einer konsequenten Öffnung der eigenen Länder gegenüber eben dieser Welt, Foto: CDD20 via unsplash

Wie sollen junge Menschen ein Land wie Afghanistan verstehen, für dessen politische Entwicklung sie mitverantwortlich sind, von dem sie aber im Schulunterricht unter Umständen nie etwas gehört haben, weil es nicht Teil unserer eurozentrischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik ist, von dem sie aus den Medien nur dann etwas erfahren, wenn es über Gewaltkonflikte zu berichten gilt?

Verantwortung hat in einer Demokratie, die die Außenpolitik eben nicht nur einer dünnen politischen Elite überlassen, sondern möglichst viele Menschen partizipieren lassen will, auch etwas mit dem Zustand der Wissensgesellschaft zu tun. Mehr noch als ein neuer außenpolitischer Ansatz bestünde Europas Verantwortung für die Welt in einer konsequenten Öffnung der eigenen Länder gegenüber eben dieser Welt. Kosmopolitismus, Neugier und Lernbereitschaft, dialogische Außen- wie Innenpolitik: Will man weitere Kriege und Enttäuschungen vermeiden, gibt es dazu in einer multipolaren Welt überhaupt keine Alternative.

Über den Autor
Portait von Kai Hafez
Kai Hafez
Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt

Kai Hafez ist Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt. Davor war er unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut in Hamburg. Für die Bundesregierung ist er als Berater tätig; er ist Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) des Bundesinnenministeriums. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem politische Beziehungen und Kommunikationsprozesse zwischen der islamischen Welt und dem Westen, Medien und die politische Transformation im Nahen Osten und die Islamphobie im Westen.

Bücher (Auswahl):

  • Grundlagen der globalen Kommunikation. Medien – Systeme – Lebenswelten. Mit Anne Grüne. UVK/UTB, München 2021
  • Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor – verstehen was verbindet. mit Sabrina Schmidt. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2015
  • Arabischer Frühling und deutsches Islambild. Bildwandel durch ein Medienereignis? (Hg.). Frank & Timme, Berlin 2013
  • Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas. Transcript, Bielefeld 2013
  • Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich. Transcript, Bielefeld 2009

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.