Illustration: Feuerdrache auf rotem Hintergrund.

Zwischen traditionellen Werten und neuen Techno­logien

China. Ein Land rasanter Entwicklungen und Innovationen und Jahrtausende alter Geschichte. Wie bewältigt das Land den Spagat zwischen diesen Gegensätzen? Was bedeutet er für die kulturelle Bildung? Ein Einblick in das chinesische Kulturverständnis.

ifa: Was wird in China unter Kultur gefasst und damit verbunden unter kultureller Bildung verstanden?

Shizhen Lu: Kultur ist bei uns ein äußerst vielschichtiges Konzept. Zunächst bedeutet Kultur die Summe der materiellen und geistigen Güter, die von einer Gesellschaft produziert werden. Kultur umfasst also materielle, institutionelle sowie psychologische Dimensionen. Zudem ist Kultur das komplexe Ganze, was ein Mensch im Laufe seines Lebens als Mitglied der Gesellschaft an Fähigkeiten und Gewohnheiten erwirbt. Dazu gehören ideologische Werte, Wissenschaft, Literatur, Kunst sowie Bräuche und Sitten. Schließlich meint Kultur auch das individuelle Wissen des Einzelnen.

Vor diesem Hintergrund geht es bei kultureller Bildung einerseits um die Tradierung materieller, institutioneller und psychologischer Aspekte an Individuen. Andererseits geht es aber auch um die Weitergabe und Entwicklung der traditionellen, besonderen Kultur des chinesischen Volkes als Gesamtheit.

Die Aufgabe kultureller Bildung ist es, Wahrnehmungen und Handlung in Einklang zu bringen

ifa: Was sind Ihrer Meinung nach künftig die wichtigsten Aufgaben der kulturellen Bildung und Anforderungen an diese?

Shizhen Lu: Die Kernaufgabe kultureller Bildung besteht in der nachhaltigen Weiterentwicklung kulturspezifischer Werte, welche die Menschheit über Jahrtausende geschaffen hat. So unterliegt kulturelle Bildung ständigen Entwicklungen. Sie ist also ein Vererbungsprozess, der notwendigerweise auch Erneuerung bedeutet. Wie bereits erwähnt, ist Kultur auch die Lebensphilosophie, die eine Gesellschaft durchdringt und das Verhalten der Menschen bestimmt. Daher besteht die Aufgabe kultureller Bildung darin, Wahrnehmungen und Handlungen in Einklang zu bringen.

ifa: Der Schwerpunkt der chinesischen Kulturpolitik lag früher auf politischen Themen, heute spielt die wirtschaftliche Effizienz eine wichtige Rolle. Welchen Einfluss hat diese Akzentverschiebung auf die Entwicklung kultureller Bildung in China?

Shizhen Lu: Ich möchte die chinesische Kulturpolitik lieber als Entwicklung verstanden wissen. Schon seit dem Altertum schätzt man in China den Kulturaufbau. Dabei gilt kulturelle Bildung als Grundvoraussetzung für Harmonie und Stabilität. Gleichzeitig ist sie ein entscheidender Faktor für den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei und ihre Ideologie. Seit der Reform und Öffnung ab 1978 ist es das grundlegende Ziel, den kommerziellen Wert der Kulturbranche zu entfalten, die Entwicklung des Kulturgewerbes zu fördern und die Nachfrage des Volkes zufriedenzustellen. Kultur nimmt einen wichtigen Stellenwert als Konsumgut einer breiten Masse ein. Es gibt eine stetige Nachfrage nach kulturellen Produkten, aber der Kern kulturellen Aufbaus ist keine Industriebranche und das Ideal der kulturellen Bildung in China sind Fürsorge und Angebot.

Digitalisierung, kulturelle Bildung und „Soft Power“

ifa: Welchen Einfluss haben Digitalisierung und die Kreativwirtschaft auf die kulturelle Bildung?

Lu Shizhen: Die Tradierung von Kultur bedarf der Erneuerung. Die Entwicklungen in der Digitalisierung bergen Herausforderungen und Chancen zugleich für die kulturelle Bildung.

Die Kreativwirtschaft ist für die kulturelle Bildung in dreierlei Hinsicht bedeutsam: Zunächst ist das eigentliche Kennzeichen der Kreativwirtschaft die Innovation. Zweitens kommt es bei der Tradierung von Kultur zu unvermeidlichen Konflikten, da die Kreativwirtschaft besonders vom Denken und Verhalten der jüngeren Generation gelenkt wird und sie wird von dieser Generation leichter angenommen. Dies ist für die Weitergabe traditioneller Kultur von großer Bedeutung. Drittens dienen kulturelle Bildung und kultureller Aufbau der Entwicklung der kulturellen „Soft Power“. Ganz im Sinn der Kulturindustrie wirkt sich dies belebend auf die Gesellschaft aus. Gesellschaftliche Ressourcen werden integriert und für den Aufbau von „Soft Power“ etabliert sich eine bessere gesellschaftliche und materielle Basis.

ifa: Neben den positiven Aspekten, die Digitalisierung für die kulturelle Bildung mit sich bringt, vor welchen Problemstellungen stehen digitale Schulen Ihrer Meinung nach besonders?

Lu Shizhen: Digitalisierung bedeutet Entwicklung und Fortschritt. Sie bringt aber auch tiefgreifende Herausforderungen mit sich. E-Learning kann den analogen Unterricht nicht voll ersetzen, da die Schüler:innen damit lediglich indirekte Lernerfahrungen machen. E-Learning basiert auf einem vielfältigen Informationsangebot, das an den vorhandenen Wissensschatz des Schülers oder der Schülerin anknüpfen kann. Aber es ersetzt nicht das aktive Überlegen und Nachdenken des Schülers oder der Schülerin, das heißt dass er oder sie aktiv Verbindungen herstellen und die eigene Vorstellungskraft entwickeln kann. Natürlich kann E-Learning auch die direkte zwischenmenschliche Interaktion nicht ersetzen.

Die größten Herausforderungen allerdings sind Selbstorganisation und Selbstdisziplin, da meist autodidaktisch gelernt wird. Schüler:innen müssen daher den Wert von lebenslangem Lernen erkennen, sich ihre Neugier bewahren und erworbenes Wissen schnell ordnen und kategorisieren können. Sie müssen in der Lage sein, korrekte Zusammenhänge herzustellen und im Anschluss die entscheidenden Informationen herausfiltern. Sie müssen ihre eigene Zeit und die persönlichen Ressourcen sehr gut organisieren.

Bildung wird global gerechter verteilt und einheitlicher

ifa: Welches waren größte Problemstellungen und Risiken, mit denen sich China in Bezug auf Digitalisierung und Bildung in jüngerer Vergangenheit auseinandersetzen musste?

Lu Shizhen: Die rasante Entwicklung des Landes stellte China vor Herausforderungen, besonders im Bereich Kultur-Tradierung und beim Aufbau des gesellschaftlichen Wertesystems. Überall wo sich Gesellschaften schnell verändern, entstehen Konflikte. Dies betrifft nicht allein die Weitergabe traditioneller Werte, sondern auch gesellschaftliche Ideologien.

In Hinblick auf Bildung und Kultur beschäftigt sich die chinesische Wissenschaft mit drei Fragen: Wie kann man jungen Menschen dabei helfen, eine Balance zwischen virtueller und wirklicher Welt zu finden? Wie kann Digitalisierung in das Bildungssystem integriert werden und wie kann der Umgang mit Medien in Curricula aufgenommen werden? Wie können Menschen ausgebildet werden, sodass sie sowohl in traditioneller Kultur geschult als auch mit modernen Fähigkeiten der Informationsgesellschaft ausgestattet sind? Es ist wichtig sich mit den Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung sowie der Reformierung des Bildungswesens auseinanderzusetzen, sodass Bildung den aktuellen Anforderungen und den Besonderheiten junger Menschen entspricht.

Die größte Reform, die die Digitalisierung mit sich bringt, ist, dass die Bildung global gerechter und einheitlicher wird, egal ob es sich um Sprachen, Kunst, Philosophie oder Naturwissenschaften handelt. Daher müssen wir in Zukunft noch über viele Aspekte ins Gespräch kommen.

 

Interview: Falk Hartig

Übersetzung: Daniel Elsäßer, Peter Pritchard

 

1 Nach dem Verständnis der politischen Führung Chinas ist die Kultur ein Instrument der Politik und kein eigenständiger gesellschaftlicher Produktionsbereich. In diesem Verständnis hat die Kultur vor allem erzieherische und ideologische Aufgaben. Wenn Kultur vermittelt wird, ist immer auch die Idee des jahrtausendealten kulturellen Erbes im Gespräch, an das die aktuelle Kulturpolitik anknüpfen will. Kultur ist somit auch ein Mittel zur Abgrenzung gegenüber dem Westen und zur Verteidigung der Stellung Chinas in der Welt. Vgl. Kahn-Ackermann: Kulturelle Erziehung und Wertebildung. ifa: Stuttgart 2020.

Über die Autorin
Portrait von Lu Shizhen
Lu Shizhen
Parteisekretärin der Kommunistischen Partei Chinas

Professor Lu Shizhen ist Parteisekretärin der Kommunistischen Partei Chinas und ehemalige Präsidentin der "School of Social Work" der China Youth University of Political Studies in Peking und Vizepräsidentin des ständigen Universitätskomitees. Sie hat zahlreiche Bücher zu sozialer Arbeit mit Jugendlichen sowie zum Aufbau lokaler Sozialarbeit veröffentlicht und erhielt zahlreiche staatliche Auszeichnungen.

Kulturelle Bildung im deutsch-chinesischen Austausch

Gemeinsam mit Partnern aus Deutschland und China fördert das ifa den transkulturellen Fachdialog von Lehrkräften, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen. Im Fokus stehen die unterschiedlichen Konzepte der kulturellen Bildung. Das Forum wurde von 2016 bis 2022 von der Stiftung Mercator in Kooperation mit der China Soong Ching Ling Stiftung und dem ifa abwechselnd in China und Deutschland ausgerichtet.