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Die Ethik und der alte Kontinent

Wie sozial ist Europa? Welchen Stellenwert haben Kinderrechte? Und welche Unterschiede bestehen in der Medienkultur des alten Kontinents? Alfred Grosser gibt Antworten.

Die EU muss sich auch mit Fragen von Wirtschaft und Ethik beschäftigen. Jeden Tag gibt es Nachrichten von chinesischen Übernahmen oder Teilankäufen in Unternehmen. Ein völlig undemokratisches Land, in dem Millionen Menschen ausgebeutet werden, um den neuen Reichtum zu erarbeiten. Die großen europäischen Textil- und Ledergesellschaften beuten weiterhin die miserabel bezahlten Arbeiterinnen in Bangladesch aus, damit ihre hiesige Kundschaft billige Waren kaufen kann. Hundert Millionen Dollar für Bernie Ecclestone, den Formel 1-Chef. 3,2 Millionen für Josef Ackermann als Auflage im Mannesmann Prozess.

Glücklicherweise brauchen auch Superreiche keinen Prozess zu fürchten, weil sie persönlich ja einen Sinn für die gemeinschaftliche Gesellschaft haben. Zwei schöne Beispiele seien erwähnt: Warren Buffett, heute 86, hat 95 Prozent seines enormen Vermögens wohltätigen Verbänden zur Verfügung gestellt. Er sagte, seine Kinder würden noch genügend erben, um ein privilegiertes Leben zu führen. Am meisten hat er an die Bill & Linda Gates Foundation gegeben. Gates verdiente mit Microsoft Milliarden. 1965 verdiente man „oben“ 20-mal mehr als „unten“. Heute ist das Verhältnis 1:276!

Die französische Vermögensteuer darf das Jahreseinkommen nicht übersteigen. Es ist ein Leichtes, hohe Lebensversicherungen zu nehmen oder Geld in Scheinfirmen unterzubringen. So hat die reichste Frau Frankreichs, Liliane Bettencourt, statt 81 Millionen Euro Vermögensteuer null Euro bezahlt. Bernard Arnault, Chef der Luxusfirma LVLH, hätte fünf Millionen zahlen müssen, überwies dem Staat am Ende aber nur 179.000. In Deutschland will die Debatte über die Erbschaftssteuer kein Ende nehmen. Wie gering sie im Namen der Betriebserhaltung sein sollte oder wie hoch in Betracht eines unverdienten Erbvermögens, ist auch nach einem neuen Gesetz unklar.

Der Deutschen Bank geht es schlecht, aber Josef Ackermann hat zwischen 2006 und 2016 ganze 64,5 Millionen Euro erhalten. Die beiden Vorstandsmitglieder von 2009, die dann Direktoren wurden, haben 50 und 29 Millionen verdient („verdient“?). Die Deutsche Bank hat echte Verbrechen begangen und wird in den USA mit vielen Milliarden bestraft. Es gilt aber das Prinzip „too big to jail“ (zu groß, um ins Gefängnis zu kommen), während ein Ladendieb oder kleiner Dealer gleich eine Haftstrafe zu gewärtigen hat.

Die Deutsche Bank hat echte Verbrechen begangen und wird in den USA mit vielen Milliarden bestraft. Es gilt aber das Prinzip „too big to jail“ (zu groß, um ins Gefängnis zu kommen), während ein Ladendieb oder kleiner Dealer gleich eine Haftstrafe zu gewärtigen hat.

Wird die Lage der Bank hingegen allzu dramatisch, gilt ein anderes Prinzip, nämlich „too big to fail“. Seitdem die Federal Reserve und die amerikanische Regierung am 15. September 2008 Lehman Brothers haben fallen lassen, was eine weltweite Finanzkrise zur Folge hatte, muss der Staat, das heißt der Steuerzahler, einspringen, um das Loch zu stopfen. „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“– diese Formel haben wir schon gehört.

Was ist ein Kind? In Europa lässt sich das ziemlich leicht definieren. Aber UNICEF zählt weltweit 191 Millionen Kinder zwischen fünf und 14 Jahren, die zum Arbeiten gezwungen oder als Sklaven gehalten werden. Kindersoldaten übrigens nicht mitgerechnet. Die Internationale Arbeitsorganisation hatte 2002 352 Millionen Arbeitende zwischen fünf und 17 festgestellt.

Der 12. Juni 2002 wurde zum Welttag gegen die Kinderarbeit ausgerufen. In Europa sollte man sich daran erinnern, wie es bei uns war. In England hat 1833 der Factory Act verboten, Kinder unter neun Jahren in der Textilindustrie einzusetzen. In Frankreich lag bis 1880 die untere Altersgrenze für den Bergbau bei sechs Jahren. Die Kinder konnten in die Kohleflöze hineinkriechen, dort wo es für Erwachsene zu eng war. Dass sie dabei oft tödlich verunglückten oder verkrüppelt wurden, störte nur die Wenigsten.

Einsatz für Kinderrechte

Als ich nach der Befreiung von Marseille 1944 kurz Angestellter einer Hafengesellschaft war, konnte ich feststellen, wie hart das Be- und Entladen der Schiffe durch die Docker war. Dann kamen die Hebemaschinen, und heute braucht es für das Verladen von Containern keine große Muskelkraft mehr. Das soll gewiss nicht heißen, dass in unserer Gesellschaft niemand mehr unten steht. In den Großstädten gibt es viele Obdachlose. In Paris helfen öffentliche und private Organisationen mit, ihr Schicksal etwas zu verbessern – besonders im Winter.

Wer ist wirklich unten? In Spanien die Hotelputzfrauen, die gestreikt haben, weil sie immer mehr ausgebeutet wurden. Alle jemals errungenen Vorteile waren weg (bezahlte Ferien, ein paar freie Wochenenden usw.), weil die Hotels sie nicht mehr als Angestellte betrachten, sondern als selbständige Unternehmer, externe Dienstleister. Unternehmen, die an keine Regeln gebunden sind, lassen sie zu ganz geringem Lohn stundenlang arbeiten. Die Frauen mussten sich dem unterwerfen, weil sie bei mehr als 20 Prozent Arbeitslosigkeit im Land nichts anderes gefunden hätten. Bis zu besagter Revolte, die teilweise erfolgreich war.

In der Bundesrepublik hat es den Fall einer Kassiererin gegeben, die gefeuert wurde, weil sie einen kleinen Pfandbon nicht abgegeben hatte. Sie habe das Vertrauen ihres Arbeitgebers verloren. Ich schrieb einen veröffentlichten Leserbrief. Ich sagte, ich hätte das Vertrauen in die Banken verloren. Wen könne ich rauswerfen? (…) Unten sind auch die vielen Obdachlosen. Besonders schlimm ist da die Lage in den USA, vor allem in San Francisco.

Unten, jedenfalls in Frankreich, sind die Insassen von überfüllten Gefängnissen, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. So sagt es fast jedes Jahr der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Im September 2016 wurde festgestellt, dass in Fresnes, dem größten Gefängnis der Pariser Umgebung mit 2.700 Häftlingen (und einer Belegungsquote von 191 Prozent der Kapazität!), Ratten herumlaufen und mit ihrem Kot alles verseuchen. Gewiss werden hier echte Kriminelle bestraft, aber die Misere erschafft auch neue Kriminelle. Für all diese da „ganz unten“ ist die Debatte zum Thema „Werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer?“ bedeutungslos. Unten sein kann der Wirklichkeit entsprechen oder einer falschen Selbstidentifikation.

Unten sein kann der Wirklichkeit entsprechen oder einer falschen Selbstidentifikation.

In Deutschland wie in Frankreich heißt es ständig: „Ich erhalte zwar Sozialhilfe, aber die aufgenommenen Flüchtlinge bekommen mehr als ich.“ Die Zahlen beweisen zwar das Gegenteil. Die Überzeugung, benachteiligt zu sein, bleibt. Werden nun in Wirklichkeit die Reichen immer reicher und die Arme immer ärmer? Vieles weist darauf hin, dass die Antwort „ja“ heißt, aber nicht alle Gegenargumente sind bedeutungslos. Es ist wahr, dass wenn „oben“ mehr verdient wird, der Durchschnitt steigt und die vom Durchschnitt aus gemessene Armut wächst. Arm sollte jedoch jeder Lohnempfänger genannt werden, der arbeitslos wird, sobald sein Betrieb sich für Massenentlassungen entscheidet – oft nur, um den Börsenkurs zu erhöhen.

Jung sein in Europa

Jung sein heißt in Deutschland etwas anderes als in Frankreich. In der Jungen Union oder bei den Jusos darf man bis 35 bleiben. Erstaunlich! Die Grundfragen bleiben jedoch dieselben in beiden Ländern. Nur zwei seien genannt. Die Zukunft von Gymnasiasten ist gesicherter als die von Schülern, die weniger gute Schulen besucht haben. Doch nicht nur das. Später, als Studenten, haben sie große kulturelle Vorteile, beim Museumsbesuch etwa oder auch beim Konzertbesuch. Das Vorzeigen des Studentenausweises genügt, um einen Rabatt zu bekommen. Einen Jungarbeiterausweis gibt es nicht.

Wie Meinungen künstlich durch Lügen und eine frei erfundene Identität der Europäischen Union fabriziert werden können, das ließ sich in England vor der Brexit-Abstimmung beobachten.

Soll man das Verbot von Cannabis aufheben? Dann wären die Dealer entwaffnet. Aber wird den Jugendlichen auch eindringlich genug gesagt, dass es klare Beweise dafür gibt, wie schwer Cannabis-Genuss das Gehirn von Jugendlichen bis zum Erwachsenenalter von 18 Jahren dauerhaft schädigt? Und wie viele sind schon im Schüleralter gewohnheitsmäßige Kiffer? Bei uns gibt es eine starke „Lobby der Alten“, die insbesondere in der Politik die meisten Stellen und Stellungen besetzt und gewissermaßen besitzt. Das Thema Generationsgerechtigkeit als solches wird in Deutschland mehr und besser diskutiert als in Frankreich. Unter anderem, weil dort das dramatische Schuldenproblem von rechts und links beiseite geschoben wird.

Jedes Jahr verschuldet sich der Staat mehr. Die Zinsen allein sind die Nummer zwei im nationalen Haushalt – nach Bildung und Erziehung und vor der Verteidigung. Die Last der Rückzahlungen wird auf die nachfolgenden Generationen verschoben. Die Rentenbeiträge müssen steigen, während die zukünftigen Rentner weniger bekommen werden. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sprechen die Zahlen für sich. Sei es bei den Niedriglohnjobs, bei den befristeten Jobs oder bei der Leih- oder Zeitarbeit – der Prozentsatz der 15- bis 34-Jährigen ist ungefähr dreimal höher als bei den Älteren.

Vier Kinder – 86 Prozent Rente

Kinder gehören in der Regel zur ersten Lebenshälfte. Deswegen muss gefragt werden, wie die Generation der Eltern behandelt wird. In Frankreich besser als in Deutschland. Höhere Steuererleichterungen. Auch bessere Renten, vor allem für die Beamten (deren Rente nach dem Gehalt der letzten sechs Monate berechnet wird, bei allen anderen jedoch auf dem Durchschnitt der letzten 25 Jahre).

Ich wage es, mein persönliches Beispiel zu geben. Mit vier Kindern erhalte ich als Rente nicht 75 Prozent meines letzten Gehalts, sondern 86 Prozent. Mit sieben Kindern bekommt man 100 Prozent. Das achte Kind bringt nichts mehr. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht 2001 festgestellt, dass kinderreiche Familien „wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichtet haben“, obwohl diese Kinder später die Renten der Kinderlosen bezahlen werden. Eine Generationenungerechtigkeit? Der Kinderlose hat immerhin ständig mehr Steuern bezahlt.

Welche Rolle spielen die Medien? 2016 ist ein wertvolles Buch erschienen. Es heißt „Pegida – Warnsignale aus Dresden“ und wurde von Werner Patzelt und Joachim Klose herausgegeben. In den Beiträgen, die gut 500 Seiten füllen, werden Grundfragen der Medienwelt angesprochen. Was sagen die Pegida-Leute? Entspricht das Gesagte der Realität? Inwieweit beeinflusst das bewusst Falsche andere Menschen? Damit wären wir bei den Meinungsforschern. Interessante Fragen bringen interessante Antwortzahlen. Nur dass die demoskopischen Institute die Entscheidungsträger beeinflussen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy ließ täglich geheime Umfragen durchführen, um zu erfahren, was er sagen sollte und was nicht.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy ließ täglich geheime Umfragen durchführen, um zu erfahren, was er sagen sollte und was nicht.

Seit Kurzem weiß man besser, wie viele nichtveröffentlichte Umfragen der Kanzlerin vorgelegt worden sind und vielleicht die Inhalte, sicher aber die Formulierungen ihrer Politik beeinflusst haben. Glücklicherweise widersprechen große Entscheidungen manchmal der Demoskopie. Hätte Angela Merkel Allensbach beauftragt, um herauszufinden, ob Deutschland Flüchtlinge aufnehmen sollte oder nicht, so wäre die Antwort negativ ausgefallen. Das Gleiche gilt für die Ostverträge, die Willy Brandt 1970 in Warschau und Moskau unterzeichnet hat.

Wie Meinungen künstlich durch Lügen und eine frei erfundene Identität der Europäischen Union fabriziert werden können, das ließ sich in England vor der Brexit-Abstimmung beobachten. Boris Johnson hat behauptet, die EU koste Großbritannien 350 Millionen Pfund (404 Millionen Euro) pro Woche, und der Beitritt der Türkei stünde kurz bevor. Die drei großen People-Zeitungen, „Daily Mail“, „Daily Express“ und „The Sun“, zusammen sechs Millionen Exemplare täglich, haben sich in Lügen übertroffen, vor allem zum Thema „Flüchtlingswelle“– mit der Behauptung – ernsthaft! – dass ein EU-Beitritt Syriens und Iraks zu erwarten sei.

Die EU wolle angeblich einen Superstaat schaffen, der es unmöglich machen würde, Terroristen vor englische Gerichte zu bringen. Und die Royal Navy würde innerhalb einer europäischen Streitkraft nicht mehr bestehen. Ohne all diese Unwahrheiten hätte es kein „Ja“ zum Brexit gegeben.

In Moskau herrscht Putin noch vollkommener über die Medien als der Beauftragte in Budapest. Nach innen und nach außen darf er seinen Bürgern völlig falsche Fakten auftischen. Die EU und die NATO werden natürlich aller Sünden dieser Welt bezichtigt. Systematisch wird auch Deutschland eine erfundene Identität auferlegt. Donald Trump hat so etwas wie einen Weltrekord der Lüge aufgestellt. Dabei ging es ihm gar nicht um die Wahrheit der verkündeten Fakten. Er wollte nur mit irgendwelchen Behauptungen aufstacheln. Die Lüge wurde zum Hinter- und Vordergrund des Wahlkampfes – ganz nach dem französischen Sprichwort: „Plus c’est gros, plus ça passe“(„Je dicker, desto besser kommt es an“).

In Moskau herrscht Putin noch vollkommener über die Medien als der Beauftragte in Budapest. Nach innen und nach außen darf er seinen Bürgern völlig falsche Fakten auftischen. Die EU und die NATO werden natürlich aller Sünden dieser Welt bezichtigt.

In Frankreich bekommen wir auch grobe Entstellungen zu hören, zum Beispiel von Marine Le Pen und Nicolas Sarkozy. Die Tageszeitung „Libération“, in diesem Punkt leider viel zu wenig gelesen, hat eine Rubrik „Désintox“ („entgiften“), in der sie wirkliche Zahlen und Fakten den behaupteten nüchtern gegenüberstellt. So verkündete Laurent Wauquiez, ultrarechter Präsident der Region Auvergne-Rhône-Alpes, dass Frankreich ständig deutsche Lokomotiven kauft und die Deutschen nur deutsche. Désintox zeigt, dass fast alle französischen Maschinen in Frankreich hergestellt wurden, die deutschen jedoch den französischen „Wirtschaftspatriotismus“ nicht praktizieren und deutsche Lokomotiven auch in Polen und in der Tschechischen Republik herstellen lassen.

Auch subtilere, weniger aggressive Methoden finden Anwendung. 1974, zu der Zeit, als ich regelmäßig für „Le Monde“ Kolumnen schrieb, fragte mich der Direktor des Blattes, Jacques Fauvet, warum ich unsere Zeitung so oft kritisiere. Ich antwortete, ich würde sie einen Monat lang genau lesen und ihm dann einen Bericht schicken, der am Ende 30 Seiten lang wurde.

Größere Sachen wurden darin behandelt: der stets abfällige Stil in den Berichten über Deutschland und die USA, die Abwesenheit jeglicher Kritik an China. Und kleinere: Eine Kundgebung im Justizpalast von 300 Anwälten gefiel der Zeitung nicht, daher setzte man eine Klammer hinter die Zahl 300 („unter 2.500 Pariser Anwälten“). Ich fragte, wieso für Studenten- oder Arbeiterkundgebung nie ähnliche Bezugszahlen genannt wurden.

Im April 2016 wollte die Zeitung beweisen, dass das Institut d’études politiques von Rechtsaußen unterwandert war. Daher titelte man: „Alain de Benoist mit offenen Armen in Sciences po empfangen.“ Untertitel: „Studenten haben die Gallionsfigur der Neuen Rechten eingeladen.“ In dem Artikel erfuhr man, dass der Hörsaal nur 50 Plätze hatte und die Direktion daran erinnerte, dass im Institut jede Gruppe von mindestens 30 Studenten die Freiheit habe, jeden beliebigen Redner einzuladen.

Spotten, was das Zeug hält

Eine Zeitung hat nicht für jeden Leser unbedingt dieselbe Identität. Seit 1992 besteht in Sciences po ein Alfred-Grosser-Lehrstuhl, der jedes Jahr von einem anderen deutschen Professor zu besetzen ist. Das Institut gibt in der „Zeit“ eine Anzeige auf, woraufhin sich ein gutes Dutzend Bewerber meldete. „Die ,Zeit‘ ist das Anzeigeblatt der deutschen Universitäten! Oft heißt es, was für nicht wenige französische Provinzzeitungen gilt: viele Werbeseiten, die durch ein paar von Journalisten geschriebenen Artikeln unterbrochen werden. Das gilt jedoch nicht für die vielleicht wichtigste französische Wochenzeitung, „Le Canard enchaîné“. Keine Werbung, seit 1991 derselbe Verkaufspreis und doch ständig Gewinn.

2015 lag der Vertrieb bei 392.000 Exemplaren und der Netto-Gewinn bei 2,3 Millionen Euro – die nicht verteilt, sondern zur Reserve werden, um die Unabhängigkeit auch weiterhin zu wahren, selbst wenn es einmal schlechter gehen sollte. Trotzdem gehören die Redakteure zu den bestbezahlten in ganz Frankreich. „Le Canard“ ist seit dem Ersten Weltkrieg der politischen Satire gewidmet, aber deckte auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Skandale auf, die nur durch ihn bekannt wurden – und manchmal erst nach Jahren als solche öffentlich anerkannt werden.

Das Blatt klärt über viele Hintergründe der Regierung und der Opposition auf, spottet, was das Zeug hält, erklärt noch mehr und wird gelesen vom gesamten politischen Spektrum sowie vielen politisch Interessierten. Unter Vichy und der deutschen Besatzung verboten, war für uns in Marseille seine Rückkehr auf die Pressebühne nach der Befreiung der Beweis dafür, dass wirklich die Freiheit zurück war.

Da es nur wenig Papier gab und die Exemplare knapp waren, mieteten einige von uns ein Exemplar für eine Stunde und brachten es gelesen brav dem Zeitungsverkäufer zurück. In den jüngsten Jahren ist „Le Canard“ so gut wie nie eines Irrtums überführt oder einer Entstellung wegen verklagt worden – und gewinnt regelmäßig alle gegen ihn geführten Prozesse.

Inwieweit ist „Le Canard“ dem deutschen „Spiegel“ ähnlich? Der Vergleich liegt nahe, aber beim Canard hat nie ein Redakteur– wie Conrad Ahlers 1962 – im Gefängnis sitzen müssen wegen Hochverrats. Da ich Ahlers seit 1947 als guten Redakteur der Jugendzeitung „Benjamin“ kannte und Franz Josef Strauß sowieso nicht mochte, fühlte ich mich besonders angesprochen. 1966 wurde ich zusammen mit meinem Kollegen und ehemaligen Studenten Jürgen Seifert Mitherausgeber von „Die Spiegelaffäre – Die Staatsmacht und ihre Kontrolle“. Später kamen Auseinandersetzungen mit Rudolf Augstein hinzu, der manchmal Skandalöses geschrieben hatte.

Wer kann sagen, was die Identität einer Zeitung ist? In Deutschland bestehen noch zahlreiche Blätter, die in Familienbesitz sind und viel Information enthalten, während in Frankreich die meisten – auch größere Regionalzeitungen – völlig leer sind, sofern man politische und internationale Nachrichten und Kommentare erwartet. Das gilt auch für die Fernsehnachrichten bei „TF1“ und „France2“ von 20.00 Uhr bis 20.30 Uhr.

In Frankreich wie in Deutschland beherrschen wenige große Pressegruppen den Informationsmarkt, die nicht notwendigerweise den Zeitungen eine Linie auferlegen. In Deutschland scheint die Holtzbrinck-Gruppe (deren nationale und internationale Breite in Frankreich kein Ebenbild hat) den von ihr in Besitz genommenen Redaktionen viel Spielraum zu lassen. Dabei ist es gar nicht sicher, ob es in Zukunft noch gedruckte Zeitungen geben wird.

Diffamierung im Netz

Das Schlimme bei Facebook, dieser wunderbaren Erfindung von Mark Zuckerberg, die ihn zum Milliardär gemacht hat, ist nicht die Art, wie meist eher junge Leute ihre Intimität preisgeben. Es ist die Leichtigkeit, mit der Mitmenschen diffamierend identifiziert werden können. Bevor jemand von seiner Diffamierung erfährt, haben schon Hunderttausende die „Nachricht“ erhalten, so dass ein Widerruf zwecklos ist, weil keiner kontrollieren kann, an wen sie gegangen ist. Die bekannte Arie in Rossinis „Barbier von Sevilla“ über die Verleumdung verblasst völlig vor der heutigen Zeit – in der die meisten Nutzer von Facebook über Rossini und seine Oper nichts wissen.

Die bekannte Arie in Rossinis, Barbier von Sevilla‘ über die Verleumdung verblasst völlig vor der heutigen Zeit – in der die meisten Nutzer von Facebook über Rossini und seine Oper nichts wissen.

Seit 1984 weiß ich, was Kultur ist. Der „Stern“ veröffentlichte eine ausführliche Umfrage des Allensbacher Instituts. „Was gehört nach Ihrer Meinung unbedingt zur Kultur?“ – Goethe: 84,5 Prozent, Mozart: 80,2 Prozent, Fernsehen: 10,6 Prozent. „Was machen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit? – Fernsehen: 66,9 Prozent.“ Goethe und Mozart tauchen da nicht mehr auf. Fazit: Die Kultur ist etwas, dessen Gebrauch man anderen überlässt!

Eine ernstere, ungewöhnliche Definition von Kultur ist diese: 1967 war ich sehr beeindruckt von dem Buch „Les enfants de Barbiana. Lettre à une maîtresse d’école“ (dt. „Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Briefe an eine Lehrerin“, 1984). Der Text ist wirklich von ehemaligen Schülern dieser berühmt gewordenen Schule geschrieben worden. Sie stellen der Lehrerin die Frage: Pierino, der Sohn vom Doktor, hat Zeit, Fabeln zu lesen. Aber Gianni nicht. Mit 15 ist er aus Ihren Händen geglitten. Jetzt ist er in der Fabrik. Er braucht nicht zu wissen, ob Jupiter Minerva geboren hat oder umgekehrt.

Im Unterricht wäre der Arbeitsvertrag der Metallarbeiter besser am Platz gewesen. „Sie haben ihn nicht gelesen? Nun, Sie sollten sich schämen. Für eine halbe Million Familien bedeutet er das Leben schlechthin. Sie und Ihresgleichen sagen unter sich, dass sie gebildet sind. Sie haben alle die gleichen Bücher gelesen. Niemand verlangt je etwas anderes von Ihnen.“

Das Wissen um die Gesellschaft sollte zur Kultur gehören.

Die Schüler haben Recht. Das Wissen um die Gesellschaft sollte zur Kultur gehören. Nur, wo hört das auf? Von einem Physiker, der viel in Ausstellungen geht, sagt man, er sei kultiviert. Von einem Musiker, der keine Ahnung von Wissenschaft hat, sagt man nicht, er sei unkultiviert.

Noch einmal anders: Wenn einer unserer beiden Enkelsöhne, die 22 und 23 alt sind, zu uns kommen und mitbekommen, dass wir gerade Mozart oder Bach hören, sagen sie: „Schon wieder eure Musik!“ (Die drei Enkelinnen sagen nicht alle dasselbe.) Einer der beiden hat Tolstois und Dostojewskis Werke komplett gelesen, aber seine literarische Kultur ist nicht seine musikalische. Der Nobelpreis für Bob Dylan hat ihn gefreut. Warum soll Bruce Springsteen, den ich auch sehr mag, nicht zur Kultur gehören? Für die Jüngeren ist dieser Sänger schon so etwas wie eine Antiquität!

Die ganz kleinen Kinder in beiden Ländern kommen in crèches oder Kitas unter oder auch nicht. In Paris sind die Plätze so spärlich, dass man die Kleinen eigentlich vor der Geburt einschreiben sollte. Auf die Überzeugung eines deutschen Gerichts, der Staat schulde den Familien, die keinen Platz gefunden haben, eine Entschädigung, ist in Frankreich bis jetzt niemand gekommen!

Kann man Schüler von sechs oder sieben Jahren weltoffen machen? Die Antwort ist ja, wenn man so handelt wie die Gemeinden von Edingen-Neckarhausen, nahe Mannheim, und Plouguerneau bei Brest, am westlichen Ende Europas. Sie sind seit mehr als 50 Jahren als Partnerstädte verbunden. Jedes Jahr verbringen einige Hundert aus jeder Stadt Wochen oder Monate in der anderen. Und welche Freude, die kleinen Schüler von Plouguerneau deutsche Lieder singen zu hören! Der Nachwuchs der jumelage (Städtepartnerschaft) ist gesichert, und die Kleinen werden in jüngsten Jahren viel über Deutschland und auch über Europa erfahren.

Quelle: Alfred Grosser (2017): Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. Bonn: Dietz. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Bonner Dietz-Verlags.

Über den Autor
Portrait von Alfred Grosser
Alfred Grosser
Publizist und Politikwissenschaftler

Alfred Grosser war ein französischer Publizist und Politikwissenschaftler deutscher Abstammung. Er war zudem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Träger des großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, der Wilhelm-Leuschner-Medaille 2004 sowie vieler anderer Auszeichnungen und Preise. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente.

Kulturreport Fortschritt Europa

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