Jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse herrscht ein hektisches Verhandeln und Kaufen, in jeder der riesigen Messehallen ein rumorendes Geräusch aus dem Geplauder der Lektoren, Literaturagenten und Vertriebsleute – und hin und wieder sieht man einen eher verwirrt wirkenden Autor. Es liegt etwas in der Luft, dass die Messeteilnehmer ein klein wenig verrückt macht: Man nennt es den „Frankfurt-Effekt“. Beispielsweise verrückt genug zu denken, dass jedes literarische Werk entscheidend für die Gestaltung der modernen Gesellschaft ist. Außerhalb der Messe geht das Leben jedoch seinen gewohnten Gang, und die Massen der Europäer ziehen bewegte Bilder der äußerst bemühten Präsentation des gedruckten Wortes vor. Ein Blick auf die entsprechenden Statistiken genügt, um einen eisigen Windhauch durch die geschäftigen Messehallen zu senden bzw. der Moral jedes ernsthaften Schriftstellers ins Gesicht zu blasen. Am besten ignoriert man diese Statistiken.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die hektische transnationale Interaktion auf der Buchmesse in gewisser Weise eine Illusion ist. In den Buchläden der Länder Europas stammt die Mehrzahl des Angebots entweder aus dem Inland oder wurde aus dem Englischen übersetzt – mit einem deutlichen Schwerpunkt beim amerikanischen Englisch.
In den Ländern, in denen Englisch bereits die Muttersprache ist, liegen die Dinge noch schlechter: Abgesehen von Klassikern wie Tolstoi, Mann oder Balzac bietet der durchschnittliche Buchladen in Großbritannien nur ein verschwindend geringes Angebot zeitgenössischer Titel aus dem Ausland. Ausnahmen wie beispielsweise der Erfolg eines gewissen schwedischen Krimis zeigen erst das wahre Ausmaß ungenutzten Potenzials.
In Frankreich, wo ich seit zwanzig Jahren lebe, werden in meinem Freundeskreis ganz selbstverständlich italienische oder spanische Romane im selben Atemzug mit französischen Romanen genannt, es handelt sich jedoch meist um bekannte Autoren. Die Masse europäischer Belletristik gelangt nie über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.
Es ist teuer, einen Übersetzer unter Vertrag zu nehmen (auch wenn diese wenig beachteten Botschafter notorisch unterbezahlt sind), und Verleger müssen davon ausgehen können, dass sich die Investition zumindest langfristig auszahlen wird.
Die Publikationen jener mutigen britischen Verleger wie Serpent’s Tail oder Dedalus, die diesen Schritt (mit Unterstützung geringer Subventionen) wagen, werden jedoch nicht einmal in den seriösen Zeitungen und (Fach-)Zeitschriften besprochen, deren Literaturteil sich stets mit den üblichen Verdächtigen zu beschäftigen scheint und nur äußerst selten wirklich neue Horizonte in Europa oder anderswo eröffnet. „The Times Literary Supplement“ bildet in diesem Zusammenhang eine rühmliche Ausnahme.
Natürlich ist eine Übersetzung stets ein Kompromiss, ein getrübter Blick auf das reine Licht des Originals – ich kenne dieses Gefühl durch meinen derzeitigen Kampf mit der Übersetzung von Flauberts „Madame Bovary“. Jene Zeiten sind vorbei, in denen wir einzig und allein Norwegisch lernten, um Ibsen lesen zu können. Der neu ins Leben gerufene Literaturpreis der Europäischen Union für zwölf Schriftsteller aus zwölf ausgewählten Ländern wird nur dann eine echte Wirkung haben, wenn die Werke der Preisträger im Anschluss in andere europäische Sprachen übersetzt werden. Da jedoch nicht einmal der britische „Guardian“ dem Preis bisher auch nur eine einzige Zeile gewürdigt hat, scheint es eine weitere EU-Initiative zu sein, die es nicht über die Schwelle des gelangweilten Desinteresses seiner Mitbürger geschafft hat.
Vielleicht betrachtet man bei Büchern zentralisierte Richtlinie, die nichts mit dem Akt des Schreibens zu tun haben, mit Argwohn. Schreiben ist schließlich eine sehr persönliche Äußerung in einer gemeinsamen Sprache, jedoch nicht eines gemeinsamen Kontinents. Wir erinnern uns an das Verbot der Sowjetunion von nahezu allem bis auf die Literatur ihrer sozialistischen Republiken. Aber dieser Vergleich ist nicht ganz fair, da die europäische Literatur der Gegenwart theoretisch frei und unzensiert ist (obwohl natürlich einige argumentieren würden, dass die Buchhalter der Verleger ihre ganz eigene Form der Zensur ausüben).
Nichtsdestotrotz müssen wir stets auf der Hut vor dem zentralisierenden „Politbüro“- Aspekt der EU sein, der sich nirgendwo so deutlich zeigt wie in der gemeinsamen Agrarpolitik, die jegliche Alternative zur chemielastigen Agrarwirtschaft im Keim erstickt sowie die Böden, Gewässer, Flora und Fauna des Kontinents in einen furchtbaren Zustand versetzt hat. Gleichzeitig haben Chemieunternehmen wie Bayer und ICI hervorragend von dieser Politik profitiert. Die Tatsache, dass es nie eine gemeinsame Literaturpolitik gegeben hat, muss etwas mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu tun haben, obwohl ich nicht weiß, warum nicht dasselbe Argument für den Bereich des Agrarwesens gilt, dem sehr viel größere Bedeutung beigemessen wird.
Literatur gedeiht durch Unterschiede, nicht durch Ähnlichkeit. Es ist das größte Geschenk der Literatur, dass man zu einer anderen Person werden kann, die sich zum Teil vollkommen von der eigenen Person unterscheidet: Deshalb sind Lyrik, Drama und Belletristik stets die ersten Angriffsziele jeglicher Gewaltherrschaft. Literatur ermöglicht uns, die Welt aus einem vollkommen anderen Blickwinkel zu sehen, in einen anderen charakter zu schlüpfen, dadurch unsere Empathiefähigkeit zu erweitern und vielleicht sogar unsere Toleranz.
Jene Zeiten sind vorbei, in denen wir einzig und allein Norwegisch lernten, um ibsen lesen zu können.
Der große modernistische Lyriker Fernando Pessoa hat mich beispielsweise nicht einfach gelehrt, was es bedeutet, portugiesisch zu sein, sondern auch die Bedeutung von Anonymität und Menschlichkeit vermittelt. Vielleicht wird der Roman „Os Meus Sentimentos“ von Dulce Maria Cardoso, der den europäischen Literaturpreis gewonnen hat, eine ähnliche Wirkung haben.
Wenn also europäische literatur eine mehrsprachige Sammlung von unterschieden ist, stellt sich die Schlüsselfrage, ob die Kennzeichnung „europäisch“, die bei einem Fußballpokalspiel von so großer Bedeutung ist, eine einigende Wirkung hat, oder ob es nur eine Phrase ist, ein praktisches Mittel, um eine Vielzahl bunter Murmeln daran zu hindern, kreuz und quer über den Boden zu rollen. Würde man sich dieselbe Frage im Zusammenhang mit der Literatur des Commonwealth stellen, die Gegenstand vieler Anthologien und literaturkritischer Studien ist und deren Werke mit vielen Preisen ausgezeichnet werden? Wie würde sich eine solche Definition auf die „hispanische“ Literatur auswirken?
Der brandneue Literaturpreis Prix Cévennes ist ein lobenswerter Versuch, literarische Integration durch Vergabe eines Preises für den besten europäischen Roman des Jahres zu fördern. Selbstverständlich muss dieser Roman jedoch schon in der französischen Ausgabe vorliegen: Und da man weiß, wie vorsichtig die meisten französischen Verleger sind, wird es wohl nur wenige Überraschungen geben. Und was ist mit all jenen außereuropäischen Schriftstellern, die in Europa leben, dort veröffentlicht werden und sogar über Europa schreiben, jedoch zufälligerweise Amerikaner, Kameruner oder Chinesen sind?
Wenn man es genau bedenkt, eignen sich die Vereinigten Staaten gut für einen interessanten Vergleich. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten der USA sind genauso groß wie zwischen den europäischen Nationen (einschließlich des „Gefälles“ zwischen Norden und Süden bzw. Osten und Westen), aber ein amerikanischer Schriftsteller schreibt in erster Linie über Amerika statt beispielsweise über Kalifornien oder Maine – ganz gleich, wie sehr die Eigenheiten einer bestimmten Region sich auf das jeweilige Werk auswirken.
Mein verstorbener guter Freund Frederick Busch war ein amerikanischer Romancier. obgleich er sehr gerne „nach Europa“ (zurück zu seinen Wurzeln) reiste und genau wusste, dass ich gleichzeitig über die britische und die französische Staatsangehörigkeit verfügte (ich wurde als Kind britischer Eltern in Paris geboren und lebe in Frankreich), war ich in seinen augen kein „europäischer“ ,sondern ein „englischer“ Romanschriftsteller.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich ihre Identität mit Hilfe der emotionalen und symbolischen Mittel der Patria aufgebaut – jener Mittel, durch die Einwanderer aus verschiedenen Nationen ihr Zugehörigkeitsgefühl zu einem riesigen, gerade eroberten Kontinent schöpften (und nach wie vor schöpfen). Für amerikanische Schriftsteller ist dies der gemeinsame Resonanzboden, ganz gleich, ob sie eine kritische, unterstützende oder zurückhaltende Haltung gegenüber ihrem Land einnehmen. Seltsamerweise handelt es sich um ein verhältnismäßig junges, ein wenig oberflächliches und sogar etwas künstliches Gebilde, das jedoch ungeheuer mächtig ist.
In den Buchläden der Länder Europas stammt die Mehrzahl des Angebots entweder aus dem Inland oder wurde aus dem Englischen übersetzt.
Fungiert Europa als Resonanzboden für die Schriftsteller des Kontinents, so hat dies eher etwas Tiefgründiges und Tragisches anstatt Triumphales. Es ist jene tragische Basston-Resonanz einer langen Geschichte außerordentlicher Errungenschaften und katastrophaler Niederlagen, demokratischer Feinabstimmungen und brachialer Eroberungen. Die Europäische Union entstand aus der Notwendigkeit, die Wiederholung solcher Fehlschläge (die sich meist in Kriegen und Massakern manifestierten) sowie damit verbundenen Schmerz, Leid und Erschöpfung künftig zu verhindern: Für die Literatur ist menschliches Versagen jedoch sehr viel interessanter als dessen Vermeidung – wir Schriftsteller wandeln alle im Schatten der „Orestie“ und stöbern immer weitere Wurzeln in den philosophischen Debatten der Agora von Athen und den Abstimmungen auf dem Hügel Pnyx auf.
Oftmals, wenn ich mich einen Augenblick lang, wie ein Europäer fühle, geschieht dies nicht nur mit einem Gefühl der angenehmen Zugehörigkeit und sogar der Zuneigung, sondern mit dem Schauer und der Furcht eines unterschwelligen Schwindelgefühls; mit Stolz, der mit einem furchtbaren Schuldgefühl vermischt ist. Während sich die Menschheit durch den katastrophalen Klimawandel mit den Folgen ihrer achtlosen Gier konfrontiert sieht, geschieht dies schließlich mit dem Gefühl, dass dieser seinen schleichenden Ursprung in Europa hatte. Die gegenwärtige politische (statt emotionale) Einheit der EU gleicht zugegebenermaßen der streitsüchtigen, stets Kompromisse eingehenden Art einer eher langweiligen Großfamilie.
Die eingesetzten Mittel sind bürokratisch, und es gibt eine Unmenge von Vorschriften und Regelungen. In der verbrauchten Luft von Gremien ist die empfindliche Blume der Literatur zum Welken verurteilt. Dieser Zustand ist unglücklich, da die weiter oben erwähnten Unterschiede weiterhin genauso viel Potenzial zur Tragödie wie zur Erbauung haben; aber trotz aller löblichen und notwendigen Anstrengungen haben weder Brüssel noch Straßburg jemals auch nur zu einer großartigen Zeile in der Literatur inspiriert – nicht einmal aus Hohn und Spott – trotz der von mir geteilten Auffassung von John Keats: „Poetry makes everything interesting“ (Lyrik macht alles interessant).
Meine eigene Prosa war in jüngster Zeit ganz bewusst „europäisch“, was mehr aus meinen persönlichen Umständen und dem Wunsch resultiert, die britische postimperialistische Begrenztheit zu erschüttern. Beispielsweise spielt mein fünfter Roman „No telling“, in dem es um einen französischen Schuljungen geht, in einem finsteren Pariser Vorort der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, und es kommt nicht eine einzige englische Figur darin vor.
Ich nutzte meine doppelte Staatsangehörigkeit, um das Buch zu einem Fenster zu machen, durch das man ohne Kompromisse auf eine andere Kultur blickt. Das Buch verkaufte sich trotz vieler und positiver Besprechungen schlecht, während die Ausgabe in holländischer Sprache etwas höhere Verkaufszahlen erzielte. Mein Lektor war der Auffassung, dass der Roman zu einem Bestseller hätte werden können, wenn er in Irland statt in Frankreich gespielt hätte. Britische Leser möchten Frankreich lieber als malerisch und paradiesisch wahrnehmen – als Reiseziel und Refugium.
Interessanterweise hat „No telling“ bisher noch keinen französischen Verleger gefunden. Frankreichs Verlage interessieren sich in der Regel für britische Romane, die eine vorgefasste französische Meinung über Großbritannien entweder bestärken oder wiederholen. Daher ist die Literatur Europas, die tatsächlich übersetzt wird, nicht unbedingt bahnbrechend für das gegenseitige Verständnis oder ein verändertes Bild über die jeweils andere Nation, sondern bestärkt aufgrund der Notwendigkeit guter Verkaufszahlen die alten Klischees: Skandinavische Schwermut, polnisches Trauma, französischer Sex. Für den britischen Durchschnittsleser ist Michel Houellebecq das Summum Bonum zeitgenössischer französischer Belletristik.
Über meine deutschen Neffen (Söhne meines Halbbruders, der einen belgischen Elternteil hat) und durch die Erlebnisse meines Vaters als Soldat im letzten Weltkrieg habe ich Verbindungen nach Deutschland. Mein Buch „The Rules of Perspective“ (2005) spielt während eines Bombenangriffs auf eine deutsche Stadt im Jahre 1944. Die Handlung teilt sich zwischen den schutzsuchenden Mitarbeitern des städtischen Kunstmuseums und einem amerikanischen Infanterieoffizier, der einen Tag später durch die Ruinen stolpert und die verbrannten Körper all jener Personen findet, deren Stimmen sich durch den ganzen Roman ziehen.
Während ich an dem Roman schrieb, besuchte ich Berlin und wurde von einem jungen Museumsangestellten heruntergemacht, der wütend darüber war, dass sich schon wieder ein Engländer auf die wenigen Jahre der Naziherrschaft konzentrierte und dabei vollständig die Jahrhunderte „ganz gewöhnlicher“ deutscher Geschichte ignorierte. Es war ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, sich über die eigenen Grenzen zu wagen. Ich gab ihm zur Antwort, dass die Bedeutung der Naziherrschaft nur wenig mit ihrer (kurzen) Dauer zu tun hatte, sondern mit ihren Folgen. In meinem Fall die verheerenden Auswirkungen auf meine eigene Familie als auch auf die polnischen Verwandten jüdischen Glaubens meiner Frau.
Meine leidenschaftliche Verteidigungsrede ließ ihn innehalten. Ich glaube, dass an jenem Abend ein winziges Stück des Verschweißens – oder wenigstens Verlötens – stattfand. Zumindest hatten wir beide die Bedeutung interkultureller Sensibilität verstanden.
Und schließlich handelt „Between each Breath“ (2007) explizit davon, wie das sogenannte „alte Europa“ auf das „Neue Europa“ des ehemaligen kommunistischen Blocks trifft: Ein glücklich verheirateter englischer Komponist mittleren Alters verliebt sich in eine estnische Studentin und ist sich der Konsequenzen nicht bewusst. Die Unterschiede haben in diesem Fall verhängnisvolle, ja sogar tragische Folgen – teils durch gegenseitiges Unverständnis verursacht, das unter dem schönen schein wohlmeinender Toleranz versteckt wird (zugleich verlieh ich meiner satirischen Sicht auf die fetten, selbstzufriedenen Jahre unter der Regierung Tony Blairs Ausdruck).
Dieser Roman wurde in die estnische Sprache übersetzt. Die estnischen Leser waren offensichtlich von dem Gedanken fasziniert, ihr Land durch die Augen eines Ausländers zu sehen. Sie, die Bewohner einer kleinen und bescheidenen Nation, waren verblüfft, dass überhaupt jemand über sie schreiben wollte, und ich war im Gegenzug von ihrer Bescheidenheit überrascht, wenn man bedenkt, dass Estland eines der ältesten und stolzesten Mitglieder Europas ist, dem man historisch sehr mitgespielt hat. Auf diese Weise lernte ich sehr viel durch diesen Roman – weniger während des Schreibens selbst als durch die interkulturellen Nachwirkungen.
Niemand kann abstreiten, dass uns wahrscheinlich nur ein fragiler Konsens der EU von den alten Albträumen trennt, wenn man bedenkt, dass ihre Reißfestigkeit wohl nur aus der schieren Zahl und Komplexität der einzelnen Fäden resultiert, die in der Gemeinschaft zusammenlaufen.
Die estnischen Leser waren offensichtlich von dem Gedanken fasziniert, ihr Land durch die Augen eines Ausländers zu sehen.
Aber es sind auch genau jene alten Albträume, die uns als Europäer definieren: Teil unseres gemeinsamen Erbes, unserer Schuld. Europa kontrolliert seine Grenzen zwar nicht mehr im herkömmlichen Sinn auf Zölle und Abgaben, aber die Grenzen existieren nach wie vor. Für die Literatur können Sprachgrenzen schlicht unüberwindbar sein. Versuchen sie einmal, in einem griechischen Buchladen zwischen den Büchern des Amerikaners Dan Brown und der Britin J. K. Rowling einen estnischen Roman zu finden oder umgekehrt. Eine Nation wird jedoch nicht nur dadurch definiert, wie sie sich selbst wahrnimmt, sondern auch dadurch, wie sie von außen wahrgenommen wird und wie sie andere sieht. Daher wäre mein Vorschlag für die wahrhafte Rolle europäischer Literatur innerhalb Europas (ganz zu Schweigen von ihrer Rolle außerhalb einer Europäischen Union) Unterschiede zu beleuchten statt Gleichmacherei zu fördern – während sie auf der tiefgründigsten Ebene zeigt, dass wir alle letztendlich menschliche Wesen mit ähnlichen Neurosen, Wünschen und Sorgen sind.
Wenn auch die derzeitige politische und bürokratische Einheit für das tiefere Schriftstellerempfinden eines „europäischen Seins“ nicht relevant ist, könnte dasselbe einigende Gebilde mehr dafür tun, eine wahrhaft europäische Literatur zu unterstützen, ohne diese zu einem exklusiven Club zu machen. Ich traf kürzlich eine EU-Übersetzerin, die von sinnlosen, einschläfernden Einzelheiten endloser Vorträge, Memoranden und Berichten zur Verzweiflung getrieben wurde, für deren Übersetzung vom Englischen ins Französische sie bezahlt wurde: Wenn nur ein Bruchteil der ungeheuren Summen, die der EU zur Verfügung stehen, der Literatur in Form großzügiger Subventionen für Publikationen und Stipendien für Übersetzungen in akzeptabler Höhe zuteilwürde, anstatt immer neue Preise ins Leben zu rufen, die es bereits in Hülle und Fülle gibt, hätte jener estnische Roman eine größere Chance, in einem griechischen, slowakischen, belgischen (oder sogar einem britischen) Buchladen aufzutauchen, und unterschiedlichkeit würde als Teil eines gemeinsamen Abenteuers zelebriert.
Aus dem Englischen von Angelika Welt
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.