Illustration: Ein Männchen balanciert auf einem aufgeschlagenen Buch.

Tanz auf dem Drahtseil

Die Herausforderungen, mit denen Europa zu tun hat, sind oft technischer, ziemlich nüchterner Natur wie Übersetzer- und Dolmetschervergütung. Doch wo sonst kann ein Autor so sehr aus der kulturellen Vielfalt schöpfen und zum Nomaden und Einwanderer der eigenen Sprache werden?

Wenn man sich zum Thema Europa äußern soll, besteht eine der Hauptgefahren darin, in beruhigende und unstrittige Banalitäten abzugleiten. Über die wir uns dann alle, zumindest innerhalb des gesellschaftlichen Milieus, in dem diese Zeilen gelesen werden, unweigerlich einig sind: Ja, das Fremde ist es wert, entdeckt zu werden; ja, das Übersetzen ist eine gute Sache; ja, der Frieden zwischen den Völkern in unserer Weltgegend ist eine außerordentliche Errungenschaft und so weiter. Dennoch – hat man sich diese bedeutenden Leitsatze erst einmal an den Kopf geworfen, wird nichts dafür getan, sie konkret umzusetzen. Um nicht in die gleiche Falle zu tappen, möchte ich versuchen, einige anschauliche Begebenheiten aus meiner bruchstückhaften und anfechtbaren Erfahrung als Übersetzer (aus dem Deutschen) und als französischsprachiger Schriftsteller (der mehrere Bücher über deutsche Persönlichkeiten geschrieben hat) aufzugreifen. 

Beginnen möchte ich mit einem Ereignis, das im Hinblick auf die Schwierigkeit, eine (konkrete) Praxis für und einen allgemeinen Diskurs über Europa zu formulieren, äußerst aufschlussreich und symptomatisch ist. Ich war eingeladen, im Maison de l‘Europe in Paris eine Gesprächsrunde mit dem bedeutenden österreichischen Schriftsteller Werner Kofler und seinem nicht weniger bedeutenden Übersetzer Bernard Banoun, dessen Arbeit in diesem Jahr mit dem Prix de Nerval ausgezeichnet wurde, zu leiten. Die Gesprächsrunde sollte sich des Themas Europa annehmen.

Da wir nichts Allgemeines über Europa zu sagen hatten oder uns dafür nicht zuständig fühlten, sprachen wir also zu dritt über die Besonderheiten der österreichischen Literatur, die Vorwürfe des Provinzialismus, denen sich auch Elfriede Jelinek ausgesetzt sah, sowie über den Einfluss von Thomas Bernhard und so weiter.

Wir unterhielten uns auf Deutsch, und ich übersetzte für das Publikum ins Französische. Unsere Ausführungen waren weder besonders akademisch noch schwer verständlich, vielmehr war es eine lebensnahe Erfahrung sprachlichen Miteinanders und europäischer Themen.

Der Leiter des ehrwürdigen Hauses aber versuchte uns zu unterbrechen, stieg auf das Podium und insistierte auf dem angekündigten Thema: Europa! In seinen Augen waren Bernhard, Jelinek und Kofler nicht „europäisch“ genug. Dann wiederholte er mit Nachdruck einen berühmten Ausspruch Umberto Ecos: „Die Übersetzung ist die Sprache Europas.“ Ohne jeden Willen zur Polemik bin ich der Ansicht, dass wir es hier mit einem guten Beispiel für die Gefahren von Allgemeinplätzen zu tun haben, die die Debatte plagen. Die Herausforderungen, mit denen Europa nämlich allzu oft zu tun hat, sind mitunter technischer und sogar ziemlich nüchterner Natur und betreffen die Übersetzung, das Dolmetschen sowie die Übersetzer- und Dolmetschervergütung.

Ein Zeichen sind wir, deutungslos, Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.

Hölderlin, Mnemosyne

Es hat etwas Beruhigendes, sich über das Übersetzen im Allgemeinen oder die Bedeutung ausländischer Literaturen zu verständigen, aber tatsächlich ist es so, dass sehr wenige Autoren außerhalb der Grenzen ihrer Sprache wahrgenommen werden, und dass der Kulturbetrieb sich weiterhin um seine nationalen Autoren herum organisiert. (Eine Ausnahme bildet die amerikanische Literatur, der – weitgehend verdient – allseits große Aufmerksamkeit zuteil wird.)

Man muss also immer wieder an die wesentliche Rolle der Übersetzer erinnern. Als französischer Romanautor, der ins Deutsche übersetzt wurde (von Katja Roloff) als auch als französischer Übersetzer von Peter Weiss habe ich viel zu oft die Erfahrung gemacht, dass der Name des Übersetzers in Rezensionen oder Buchpräsentationen nicht einmal erwähnt wird.

Anonyme Dienstleistung

Illustration: Geschäftsmann ohne Gesicht.
In einer Debatte über das Übersetzen sollten die einfachen, aber fundamentalen Fragen nach der Vergütung und der Anerkennung der Person nie ausgelassen werden, Illustration: John Holcroft / Ikon Images via picture alliance

Die empfindliche Übertragung von einer Sprache in einer andere, die vielen Stunden, in denen man sich wegen dieser oder jener idiomatischen Wendung die Haare rauft, Autoren oder native speakers befragt, um einen unbekannten Ausdruck zu verstehen und nachzubilden – all diese Arbeit wird als vage anonyme Dienstleistung angesehen und viel zu oft nicht anerkannt. Der Glaube an eine Transparenz der Sprachen, die süßliche Ideologie eines tout communicationnel, einer Vorstellung allgegenwärtiger Kommunikation, ist weiter verbreitet als gedacht.

Im Februar 2007 entbrannte in Deutschland eine Auseinandersetzung, in deren Zuge mehrere Leitartikler die auf eine bessere Vergütung drängenden Übersetzer scharf kritisierten und als Diven verspotteten. Es ist bestürzend, wenn man erfährt, dass die 1800 Zeichen umfassende deutsche Normseite schlechter bezahlt wird als die um 300 Zeichen kürzere französische Normseite. Man muss auch wissen, dass ein Übersetzer meistens mehrere Berufe gleichzeitig ausübt: Er soll der Agent desjenigen Autors sein, den er zu übersetzen wünscht, und es i st oft an ihm, einen anderssprachigen Lektor davon zu überzeugen, sich für einen quasi Unbekannten zu interessieren. (Ich spreche hier nicht von Michel Houellebecq oder Amélie Nothomb, sondern von Autoren wie Christian Prigent oder Régis Jauffret, um nur zwei zu nennen, die in Deutschland gänzlich unbekannt sind.)

Das gleiche gilt umgekehrt natürlich auch für sehr gute deutsche Autoren. Derselbe Übersetzer, der die Pressemappe für ein zu übersetzendes Buch überträgt, liefert auch die zwölfseitige Probeübersetzung – ohne jede Garantie dafür, dass all diese Unternehmungen zu etwas führen.

Ich wünsche mir deshalb, dass in einer Debatte über das Übersetzen die einfachen, aber fundamentalen Fragen nie ausgelassen werden: namentlich Fragen zur Vergütung, zur Anerkennung der Person (sei es auch nur im Rahmen der Nennung des Namens in einer Rezension) sowie der Arbeit des Übersetzers.

Das Verhältnis von uns Franzosen zu Dostojewski oder Döblin beruhte auf Übersetzungen, die unlängst einer gründlichen Revision unterzogen worden sind und uns die Undurchdringlichkeit und Fremdheit dieser Autoren zurückgegeben, sie vom Gang der französischen Syntax befreit haben, wo die ersten Übersetzer diese noch mit Macht durchsetzen wollten.

Für die Wiederentdeckung des russischen Romanschriftstellers muss an dieser Stelle André Markowicz gewürdigt werden, der, wenn man ihn nach seinem zur Zielscheibe der Polemik gewordenen Status als Übersetzerstar befragt, antwortet: „In einer Sache wenigstens war ich erfolgreich. Dass man das Augenmerk auf die Übersetzung richtet, dass man bemerkt, dass das Buch übersetzt ist. Im Theater wird normalerweise nicht darauf hingewiesen, dass das Stück übersetzt wurde. Das erste Mal wird ein Übersetzer als Autor angesehen. Und das ist gut so.“

Syntaktische Stoßrichtung

Olivier le Lays Neuübersetzung von „Berlin Alexanderplatz“ hat ebenfalls erst jüngst die umfassende Wiederentdeckung dieses Romans ermöglicht, der in der Erstübersetzung drastisch um ein Viertel gekürzt und aufs Äußerste geglättet worden war.

Die gleichen Schockmomente der Entdeckung eines gänzlich anderen Buches, der Erfahrung, dass sich unter dem gleichen Namen („Berlin Alexanderplatz“, „Verbrechen und Strafe“, jene Titel, die uns seit langer Zeit begleiten) eine neue syntaktische Stoßrichtung und neue Empfindungen verbergen, ermöglichen es uns, uns der Brüchigkeit unseres Halts in der Welt bewusst zu werden. Unsere Wahrnehmung von Welt, sogar von unserem Leben, speist sich aus der Lektüre der großen Werke der Weltliteratur.

Die ständige Gefahr besteht beim Übersetzen darin, den Text zu französisieren, ihn in unsere Form zu gießen. Deswegen sagt Olivier le Lay, der Autor der Neuübersetzung des Romans von Alfred Döblin, dass es ihn freut, wenn man ihm sagt, dass die Übersetzung beim Lesen spürbar ist. Warum schließlich sollte man versuchen, die Fremdheit des Textes zum Verschwinden zu bringen, wenn eben sie es doch ist, nach der wir suchen?

Es ist dieses Verhältnis zum Fremden, das ich beschreiben möchte, dieser Verlust der Selbstverständlichkeit der Sprache, diese quasi-körperliche Bewusstwerdung, dass die Sprache nie gegeben ist, dass sie unablässig unterhöhlt wird von unverständlichem und Widerständen.

Ich habe fast sieben Jahre in Deutschland gelebt mit nur kurzen Unterbrechungen, die ich in Frankreich verbrachte. In freilich sehr viel weniger drastischen als den von Hölderlin mit Nachdruck gesetzten Begriffen habe ich wie viele andere die Erfahrung dieses fremdartigen Dazwischenseins gemacht, das sich nach einigen Monaten in einem Land einstellt, dessen Sprache, ganz gleich wie gut man sie beherrscht, immer eine fremde Sprache bleibt.

Plötzlich findet man sich zwischen einem vom Deutschen durchkreuzten Französisch (zahlreiche Germanismen beginnen meiner Muttersprache zuzusetzen) und einem vom Französischen durchsetzten Deutsch und macht die womöglich insbesondere für einen Übersetzer schmerzhafte Erfahrung, dass man im Französischen beginnt, sein natürliches Sprachgefühl (oder was man dafür hält) im Hinblick auf die Syntax und sogar die Lexik zu verlieren (der Unterschied zwischen Imparfait/Passé Simple, das Präpositionalsystem, um nur zwei Punkte zu nennen).

Warum schließlich sollte man versuchen, die Fremdheit des Textes zum Verschwinden zu bringen, wenn eben sie es doch ist, nach der wir suchen?

Man hat auch den Eindruck, den Anschluss zu verlieren an die zeitgenössischen Ausprägungen seiner Muttersprache, ihre vielgestaltigen Wandlungen, ihren sich unablässig erneuernden Argot; jedes Mal, wenn ich nach Paris zurückkehrte, begegneten mir eine Menge neuartiger Ausdrücke.

Aber dieser Zustand des Dazwischen kann uns auch lehren „auf dem Drahtseil zu tanzen“, wie es Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch über Kafka („Für eine kleine Literatur“) nennen. Die beiden Philosophen schärfen uns hierzu ein, die Sprache zu vertiefen, zum Nomaden und Einwanderer der eigenen Sprache und minoritär zu werden wie Kafka, der das Deutsch Goethes durch das Tschechische und Jiddische bereicherte. Er läuterte die deutsche Sprache und befreite sie von ihren Verkrustungen und Klischees, die sie Anfang des Jahrhunderts in Prag verarmt hatten.

Thomas Bernhard unter Moralisten

Auf ganz andere Art sind die Bücher von Bernard Lamarche Vadel („Vétérinaires“, „Sa vie son oeuvre“) beeindruckende Beispiele einer Übertragung des Deutschen ins Französische, die eine absonderliche, „unbrauchbare“, aber äußerst schöne und beunruhigende Sprache bewirkt, so, als hätte sich Thomas Bernhard ohne unser Wissen hinterrücks in das klassische Französisch der Moralisten des Grand Siècle eingeschlichen.

Ein weiterer Aspekt dieser Hybridisierungen besteht in der Wahl solcher Themen, die eine andere Nationalgeschichte als jene des Autors rekonstruieren: Das Thema meiner ersten drei Romane (deutscher Titel: „Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico. Drei Romane“, übersetzt von Katja Roloff) ist das Deutschland des Wiederaufbaus der Sechziger- und Siebzigerjahre. Im Wesentlichen von Fassbinder, Bernhard Vesper, der Roten-Armee-Fraktion bis hin zu der Sängerin Nico. Ich habe mich nie als Historiker oder Spezialist für diese Fragen auf ein so eminent heikles und problematisches Terrain gewagt, sondern ich habe meine eigenen biografischen Spannungen darauf projiziert.

Illustration: Mann steht vor einem offenen Buch.
Es hat etwas Beruhigendes, sich über das Übersetzen oder die Bedeutung ausländischer Literaturen zu verständigen, aber sehr wenige Autoren werden außerhalb der Grenzen ihrer Sprache wahrgenommen, Illustration: Andrea Danti / Zoonar via picture alliance

Ich habe also versucht, einen möglichen Baader und Fassbinder zu imaginieren (genauso glaubwürdig und wahrscheinlich wie ihre historischen Vorbilder), und zwar mit dem Blick des Franzosen, der die filmischen Collagen eines Godard ebenso aufgesogen hat wie die Gedichte eines Apollinaire und von der Boxtechnik eines Mohammed Ali nicht weniger fasziniert war; indem ich also aus historischem und künstlerischem oder sportlichem und fremdländischem Material schöpfte und mich so der deutschen Geschichte näherte.

Dass auch Genres und Einflüsse vermischt werden können, bringt Malcolm Lowry vortrefflich in dem Vorwort zu seinem Roman „Unter dem Vulkan“ zum Ausdruck. Er selbst sagte dazu: „Er kann als eine Art Symphonie betrachtet werden oder in anderer Hinsicht als eine Art Oper – oder sogar als Western. Ich wollte aus ihm Jazz, ein Poem, ein Chanson, eine Tragödie, eine Komödie, eine Farce und noch mehr machen. (…) Er ist eine Prophetie, eine politische Warnung, ein Kryptogramm, ein irrer Film, ein Menetekel, eine Wandparole.“

Diese Querverbindungen, diese absonderlichen historischen, sprachlichen und Genreübertragungen sind es, die eines Tages wohlmöglich die Besonderheit der europäischen Literatur ausmachen werden und die bereits zur ihren Bestandteilen gehören – möglich machen sie die Übersetzer.

 

Aus dem Französischen von Gregor Runge

Über den Autor
Alban Lefranc
Schriftsteller und Übersetzer

Alban Lefranc, Jahrgang 1975, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Paris und ist Mitherausgeber der deutsch-französischen Literaturzeitschrift „La mer gelée“. Anfang 2009 erschien sein neuester Roman „Vous n‘étiez pas là“ bei Verticales/ Gallimard. Auf Deutsch kam im Oktober 2008 sein Band „Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico. Drei Romane“ im Blumenbar Verlag heraus.

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