Mann mit Megafon schreit Frau an.

Das Anti-Europa

„Woran denken sie, wenn sie das Wort ,Balkan‘ hören?“, fragt die kroatische Autorin Slavenka Drakulić. Der Balkan sind immer die anderen – das Anti-Europa. Die Grenze verläuft in den Köpfen und hält den Südosten des Kontinents draußen.

Ich muss gestehen, dass ich den Namen Balkan nicht mag. Zu Recht mögen Sie fragen: Wie ist das möglich? Sind Namen nicht neutral und in gewissem Sinne auch unschuldig, weil alles davon abhängt, wie wir sie verwenden, und in welchem Kontext? Oder ist der Name Balkan eher eine Art Supermarkt, in dem verschiedene Leute mit einem Einkaufskorb umhergehen und ihn mit Bedeutungen füllen, die bereits in den Regalen ausliegen? Und was für Gründe könnte ich haben, so gefühlsbetont auf diesen besonderen Namen zu reagieren? Schließlich ist der Name einer geografischen Region kein Mensch, den man mag oder nicht.

Allerdings möchte ich jetzt […] überlegen, wie dieses Verb wieder nur zum Substantiv werden könnte.

Doch ich kann dem entgegenhalten, dass ich einen Grund – einen stichhaltigen Grund – für die Animosität habe: Ich habe erlebt, wie sich dieser Name, Balkan, in das Verb balkanisieren verwandelte – und habe mit tausenden von anderen Menschen unter den Folgen dieser Metamorphose gelitten. Allerdings möchte ich jetzt nicht diskutieren, wie wir dieses Geschehen hätten verhindern können – das hieße, töricht zu beklagen, was nicht mehr zu ändern ist – sondern überlegen, wie dieses Verb wieder nur zum Substantiv werden könnte.

Wir haben alle von der Balkanisierung der Sowjetunion gehört oder gelesen. Häufig entdeckte ich in der Zeitung eine Überschrift wie „Die Balkanisierung Kenias“ oder „Washington betreibt die Balkanisierung Boliviens“. Erst kürzlich stieß ich in einem Buch von Ryszard Kapuściński über Afrika auf den folgenden Satz: „Der Afrikaner kennt sich gut in dieser Geografie freundschaftlicher und feindseliger Stammesbeziehungen aus, die nicht weniger bedenklich sind als jene, die heute auf dem Balkan herrschen.“

Synonym für Division

Wenn sie bei Google nachschauen, finden sie 13.000 Seiten unter dem Stichwort „Balkanisierung“, und die englische Seite von Wikipedia erklärt, der Begriff „balkanization“ sei „ein geopolitischer Begriff, der ursprünglich die Zersplitterung oder Unterteilung einer Region oder eines Staates in kleinere Regionen oder Staaten bezeichnete, die sich untereinander häufig feindselig oder unkooperativ verhalten. (…) Zunächst bezog sich der Begriff auf die Konflikte, die im 20. Jahrhundert auf dem Balkan ausbrachen. Die erste Balkanisierung manifestierte sich in den Balkankriegen und fand später eine Bestätigung durch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien.

Mit dem Wort werden auch andere Zerfallsformen bezeichnet, beispielsweise die Unterteilung des Internets in separate Enklaven. Manchmal ist mit Balkanisierung auch die divergierende Entwicklung von Programmiersprachen und Dateiformaten gemeint. (…) In der amerikanischen Städteplanung versteht man darunter die Entwicklung geschlossener Wohnanlagen. Im Januar 2007 sprach Gordon Brown in Hinblick auf die wachsenden schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen von der ‚Balkanisierung Großbritanniens’“.

Der englische Merriam-Webster fügt hinzu, dass „balkanize“ ein transitives Verb ist, dessen Synonyme „teilen“ und „aufgliedern“ sind. Überflüssig zu erwähnen, dass es ein anrüchiges Wort ist und dass das Substantiv (oder der Name) infolge des Verbs ebenfalls eine besondere Bedeutung angenommen hat – nicht mehr bloß ein Name und nicht mehr unschuldig.

Was Europa nicht ist

Um auf die Metapher des Supermarkts zurückzukommen: Was sie heute in ihrem Einkaufskorb haben, hängt natürlich davon ab, wo sie einkaufen. Wenn sie in Wien oder im „Westen“ oder in „Europa“ einkaufen (auch das sind Supermärkte, die zum Platzen mit Bedeutungen gefüllt sind!) erwerben sie – um es ganz einfach auszudrücken – die Vorstellung, dass der Balkan das ist, was Europa nicht ist. Lassen sie die Geografie beiseite, die Grenze verläuft irgendwo in den Köpfen, nicht in der Landschaft selbst. Für Zeitgenossen ist sie höchstwahrscheinlich durch die Fernsehbilder der letzten Kriege definiert.

Die Grenze verläuft irgendwo in den Köpfen, nicht in der Landschaft selbst.

Wenn sie die Augen einen Moment schließen und Balkan sagen, sehen sie vermutlich die Bilder von Flüchtlingsmassen vor sich, von weinenden Frauen mit Kopftüchern, Vukovar in Trümmern, Leichen, noch mehr Leichen, die CNN-Reporterin Christiane Amanpour, die vor einem Hintergrund von Tragödien und Verwüstungen berichtet.

Dann erinnern sie sich vielleicht an die Zahlen (mehr als 7.000 ermordete muslimische Männer in Srebrenica, 60.000 vergewaltigte Frauen, 200.000 Tote in Bosnien, 10.000 verwundete Kinder ...). Oder, wenn sie kein Zahlengedächtnis haben, fallen ihnen wahrscheinlich Gesichter ein, vor allem das eines zum Skelett abgemagerten jungen Mannes hinter dem Stacheldrahtzaun eines Konzentrationslagers in Omarska, Bosnien. Oder die Gesichter von Kriegsverbrechern wie Ratko Mladić, dem langhaarigen Radoslav Karadžić oder Slobodan Milošević.

Ich erinnere mich an einen Pullover, einen weißen handgestrickten Pullover mit roten Flecken. Er gehörte dem Vater eines kleinen Mädchens, das von einem Granatsplitter getötet worden war. Während der Vater den winzigen Körper im Arm hielt, sickerte das Blut seiner Tochter in den Pullover, den er noch eine halbe Stunde später trug, als eine CNN-Kamera ihn filmte. Wem wäre ein Vorwurf daraus zu machen, dass ihm alle diese Dinge in den Sinn kommen, wenn er den Namen Balkan hört?

Einige von Ihnen erinnern sich vermutlich auch an das unwirkliche Blau der Adria, das schmackhafte Essen, die Strände mit den kleinen weißen Kieseln, an denen sie mit ihren Eltern Urlaub machten, damals in den Sechzigern, als alles noch anders war. Doch ich befürchte, dass sich die Vorstellung vom Balkan als Nicht-Europa in den Köpfen festgesetzt hat, seit sie diese idyllische Landschaft das letzte Mal besucht haben.

Das Buch der Historikerin Maria Todorova, „Die Erfindung des Balkans“, machte deutlich, dass wir es hier mit einer „imaginären Geografie“ zu tun haben […].

Das Buch der Historikerin Maria Todorova, „Die Erfindung des Balkans“, machte deutlich, dass wir es hier mit einer „imaginären Geografie“ zu tun haben, um den Ausdruck von Edward Said aufzugreifen. Erinnern wir uns, Todorova sagte, der Balkan sei ein alter Name (der türkische Name für das Stara-planina-Gebirge in Bulgarien), aber ein ziemlich neuer Ausdruck, der Ende des 19. Jahrhunderts entstand, als der Balkan langsam – in einer Art „literarischer Kolonisation“ – zu dem dunklen und gefährlichen, aber auch exotischen Ort wurde.

Daran waren verschiedene westliche Autoren beteiligt – unter anderem Rebecca West, Agatha Christie, Bram Stoker, Karl May; bis hin zu den Nachkriegserinnerungen von Politikern wie David Owen und Richard Holbrooke oder den „Reisebüchern“ von Robert Kaplan und Peter Handke. Der Balkan wurde zu einem Raum, in dem die Mythologie mächtiger als die Geschichte ist, dessen wilde, exotische Bewohner keine höheren Werte als Blut und Boden kennen und der, auf ewig überschattet von Konflikten und Religionskriegen, eine Stätte der Unsicherheit ist.

Natürlich hatte das zur Folge, dass die Menschen, die dieses Raum-Namen-Verb-Bildsymbol bewohnten, zu Gefangenen der negativen Konnotationen wurden. Ihnen (uns) gefiel es nicht, dazugerechnet zu werden, folglich versuchten sie sich zu distanzieren. Niemand will zum Balkan gehören. Das gilt auch für den Blick von Orten aus, die man eigentlich dem inneren des Balkans zurechnen würde: „Der Balkan, das sind die anderen!“, wie es der slowenische Soziologe Rastko Močnik in seiner treffenden Formulierung ausdrückte.

Jeder von uns (Slowenen, Kroaten, Serben und so fort) blickt weiter nach Osten, und damit verlagert sich diese symbolisch imaginäre Grenze vom Wiener Südbahnhof nach Triest und Ljubljana, dann nach Zagreb und Sarajevo, schließlich nach Belgrad und sogar noch weiter südöstlich nach Priština. Keine Grenze dieser Erde ist so flexibel, und das liegt daran, dass es keine Grenze, sondern eine Wahrnehmung ist.

Schlägerei in der Balkankneipe

Es ist sehr interessant, wie Maria Todorova das negative Image des Balkans historisch analysiert (übrigens nennt sie mich als eine der Autorinnen, die das negative Image benutzen, indem sie es als transitives Verb statt als Substantiv verwenden – ich gestehe, dass ich es tat). Doch ich erinnere mich noch persönlich an diese Veränderung in den letzten Jahrzehnten – obwohl die Verwandlung, wie erwähnt, nicht 1991, sondern mit den Balkankriegen begann, sich dann fortsetzte mit Gavrilo Princips Attentat auf Franz Ferdinand, rund eine Generation später mit dem Zweiten Weltkrieg und erst dann mit dem Zerfall Jugoslawiens.

Der Ausdruck „Balkan“ wurde in ex-Jugoslawien nicht oft verwendet – und nicht ausschließlich in negativem Sinne. Gewiss, man bezeichnete damit das primitive Verhalten eines Menschen, etwa das eines Mannes, der seine Frau verprügelte.

 

Oder man benutzte die berühmte Paraphrase des Schriftstellers Miroslav Krleža für Politik: „balkanska krčma“, die Balkan-Kneipe, in der die Schlägerei beginnt, wenn das Licht ausgeht. Doch für die jungen Leute gab es Mitte der Achtzigerjahre auch Johnny Štulics populären Song „Balkane moj“ („Mein Balkan“), der frei von diesen „alten“ Bedeutungen war.

Doch wir können diese negativen Vorstellungen nicht einfach ignorieren, denn sie sind nicht nur imaginär; die jüngsten Kriege bestätigten diese mentale Landschaft als realen Ort des Schreckens und der Zersplitterung. Außerdem gibt es jetzt die neuen Grenzen, und die sind nicht symbolisch, sondern real, mit der hellroten Farbe des Blutes gezogen.

Für mich persönlich, als Schriftstellerin, ist die Geschichte des Balkans als „Name, der zum Verb wurde“ besonders schmerzlich, weil den realen Kriegen der „Krieg der Worte“ vorausging und ich erleben musste, welches Unheil Worte anrichten können. Kein Krieg geschieht einfach so; es muss eine Phase der Propaganda vorausgehen, um das Töten psychologisch vorzubereiten. Gewöhnlich sind es Vertreter der Kultur, des Bildungswesens und der Medien – Intellektuelle, Schriftsteller, Professoren, Künstler und natürlich Journalisten –, die von dem Regime mit dieser Aufgabe betraut werden, was uns, nebenbei gesagt, auch daran erinnern sollte, dass die Kultur und ihre Repräsentanten nicht notwendigerweise oder definitionsgemäß eine positive Kraft in der Gesellschaft sind – vergessen wir nicht, dass Radovan Karadžić ein Dichter und Dobrica Ćosić ein Schriftsteller war.

Vergessen wir nicht, dass Radovan Karadžić ein Dichter und Dobrica Ćosić ein Schriftsteller war.

Ehrlich gesagt, ich staune immer wieder, dass das Publikum im Westen bei jeder öffentlichen Lesung oder Rede die ewig gleiche Frage stellt. Das geschieht unabhängig von dem jeweiligen Thema, selbst wenn es sich um eine rein literarische Diskussion handelt. Das ist ohne Belang: Solange ich von dort komme, gehöre ich zu denen. Und obwohl so viele Jahre vergangen sind, so viele Zeitungsartikel gedruckt, Fernsehsendungen ausgestrahlt und Bücher veröffentlicht wurden – die Frage bleibt immer die gleiche: Wie und warum hat der Krieg in Jugoslawien begonnen? Warum versank ein blühendes Land, das frei vom Kommunismus sowjetischer Spielart und blockfrei war, in einem so blutigen und brutalen Krieg?

Meine sehr lakonische Lieblingsantwort lautet: Unser Land zerfiel wegen – der italienischen Schuhe! Weil wir glaubten, wir wären frei, entwickelten wir keine demokratische politische Alternative, und das Vakuum wurde von Nationalisten gefüllt.

Doch bedenken wir Folgendes: Nach all diesen Jahren, achtzehn seit Beginn des Krieges, vierzehn seit seinem Ende, hat eine ganze Generation Zeit gehabt, heranzuwachsen, nicht nur auf dem Balkan, sondern auch im Westen – und was wissen diese jungen Leute? Was wissen sie hier über den Balkan, abgesehen von den Klischees? Um die Wahrheit zu sagen, ich habe ein Problem mit den Westeuropäern: Nachdem so viele Jahre vergangen sind, habe ich den Verdacht, dass die Menschen hier gar nicht verstehen möchten, wie es geschehen ist. Zu kompliziert, sagen sie in der Regel.

Weil wir glaubten, wir wären frei, entwickelten wir keine demokratische politische Alternative, und das Vakuum wurde von Nationalisten gefüllt.

Zunächst habe ich geglaubt, sie wären einfach zu faul, um diese wenigen historischen Fakten in Erfahrung zu bringen. Doch nachdem mir diese immer gleiche Frage wieder und wieder gestellt wurde, änderte ich meine Meinung: Heute denke ich, dass die schrecklichen Fernsehbilder von den Kriegen auf dem Balkan eine sehr bequeme Entschuldigung dafür sind, dass man uns nicht versteht: Die Menschen von dort und unsere Kriege sind einfach nicht zu verstehen, weil sie so vollkommen verschieden sind. Tatsächlich dienen diese Bilder und Erinnerungen als eine Art Schutzschild. Würden die Europäer sagen, sie verstünden diese beängstigenden Ereignisse, hieße das, dass wir alle gleich oder zumindest ähnlich wären. Es ist sicherer, diese Möglichkeit auszuschließen und den notwendigen gesunden Abstand zu solchen Nachbarn zu halten. Erinnern wir uns: Der Balkan ist das, was Europa nicht ist.

Als wäre der Westen ein unberührtes, nie vom Pesthauch des Bösen gestreiftes Gebiet – als gingen die europäischen Nationalstaaten oder Revolutionen nicht auf blutige Anfänge zurück, als hätte Auschwitz nicht stattgefunden ... Ja, könnte man einwenden, aber zumindest war es eleganter! Kein Blut, keine Messer, kein Gemetzel, keine sichtbare Brutalität. Die Bilder der abgezehrten Leichen? Sie sind nicht vergessen, sondern einfach tiefer im Gedächtnis verstaut, schließlich muss ein bisschen Platz für die neuen Schrecken bleiben, für Bagdad oder Abu Ghraib etwa.

Die Aufnahmefähigkeit ist begrenzt; es muss eine Horrorquote geben, einen Punkt, jenseits dessen uns Gewalt nichts mehr sagt. Was mich zu der Überlegung führt, wie lange die Deutschen brauchten, um die Vorurteile loszuwerden, die ihrer genozidären Vernichtungsmaschinerie und der Vorstellung vom deutschen „Kadavergehorsam“ galten. Diese historische Perspektive macht mir Hoffnung: Dreizehn Jahre seit Ende des Kriegs auf dem Balkan ist gar nicht so viel Zeit, oder?

Jenseits der Horrorquote

Doch wenn sich andererseits nach fast neun Jahrzehnten der Name „Balkan“ auf die Bedeutung eines transitiven Verbs reduziert hat, stellt sich die Frage, wie lange es dauern wird, das umzukehren. Lässt sich dieser Name wieder reinwaschen; kann er wieder den Glanz des Substantives annehmen? Die Frage lautet also: Wie können wir das bewerkstelligen?

Ich denke, erstens müssten wir – ich meine jetzt uns aus ex-Jugoslawien – zugeben, dass wir selbst zur Wiederbelebung der Balkanisierung beigetragen haben, kam das Verb „balkanisieren“ doch mit unserer Hilfe zu neuer Geltung: Schließlich haben wir (nicht jemand anders, keine Fremden) die Kriege gegeneinander geführt. Das wäre der Anfang einer Veränderung, der Beginn des Reinwaschens und Aufpolierens.

Doch wie sieht es heute mit den (materiellen) Möglichkeiten der Kultur in ex-Jugoslawien aus? Ich stelle diese Frage, weil im sogenannten Übergangsprozess Kultur und Künste die eindeutigen Verlierer sind: Während staatliche Zuschüsse ständig abnehmen, gibt es kein etabliertes privates Spendensystem. Örtliche Privatfirmen investieren lieber – in den Sport!

Noch schlimmer ist der Umstand, dass auch das öffentliche Interesse an Kultur und Kunst zurückgeht. Der Überlebenskampf im Wildwest-Kapitalismus lässt weder Geld noch Energie für die Kultur übrig. Während beispielsweise das durchschnittliche Einkommen einige hundert Euro (200 bis 700) beträgt, kostet ein Buch so viel wie im Westen, wenn nicht mehr.

Bei den Massenmedien findet der Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern statt. Zeitungen werden zu Profitmaschinen, was zur Folge hat, dass der öffentliche Raum schrumpft und der Raum für Kultur verschwindet; es gibt kein Geld mehr für Kultur, es sei denn, sie erklärt sich zur Propaganda bereit – nicht mehr politischer Art, Werbung heißt das jetzt. Bislang hat es den Anschein, dass uns das neue politische und wirtschaftliche System Freiheit auf kulturellem Gebiet beschert hat. Doch was können wir mit dieser Freiheit anfangen – ohne Geld? Wir können uns Hoffnung auf Hilfe machen. Ja, wir brauchen Hilfe aus dem Ausland. Ein Trost ist, dass Kultur billig ist! Jedenfalls vergleichsweise.

Gewiss, wenn Kultur dem Markt ausgeliefert wird, ist ihr Schicksal Marginalisierung – aber Kultur ist zu wichtig, um nur dem Markt überlassen zu bleiben. Die Bedeutung von Kunst und Kultur liegt darin, dass sie Kapital erzeugen – „symbolisches Kapital“, das in der Lage ist, soziale Integration zu bewirken und Werte zu verbreiten. Unter Kultur verstehe ich Menschen, die heute kulturelle Artefakte hervorbringen: Performances, Videos, Bücher, Ausstellungen, Filme, Musik, Theater.

Das Paradoxe von Kunst und Kultur liegt (gemessen am investierten Geld) darin, dass sie hervorragende Exportartikel sind und für eine beachtliche Präsenz des Landes oder der Region in der größeren Gemeinschaft sorgen. Sie garantieren auch einen gewissen Ausgleich, weil selbst ein kleines Land einen größeren Beitrag leisten kann: Als die Zagreber Philharmonie unlängst ein Konzert in Wien gab, sagte der ehemalige österreichische Kunststaatssekretär Franz Morak: „Das war der größte Erfolg der kroatischen Außenpolitik in den letzten zehn Jahren.“

Kultur und Künste sind der kostengünstigste und schnellste Weg nach Europa.

Wenn wir ein Land durch seine Kultur und Kunst darstellen und wahrnehmen, erhalten wir ein anderes und differenzierteres Bild von ihm und sehen jenes Image infrage gestellt, das die Länder der Region gewöhnlich auf einen einzigen gemeinsamen Nenner reduzieren. Kultur kann ein Land in den Blickpunkt rücken, ihm Anerkennung verschaffen und es als attraktiven, offenen, interessanten und kulturell vielfältigen Raum wahrnehmbar machen.

Der größte Vorteil aber ist, dass durch eine solche Darstellung von Kultur und Künsten jeder gewinnen könnte. Das Land könnte gewinnen, weil kleine Länder um ihre nationale Identität fürchten. Wenn Kunst und Kultur diese Identität auf der größeren Bühne präsentieren, bekämpfen sie die Furcht, in der EU verloren zu gehen, und die Angst vor der Globalisierung.

Kunst und Kultur sind, wenn sie so wollen, praktische politische Werkzeuge, um positive Effekte auf außen- und innenpolitischer Ebene zu erzielen. Sie sind der kostengünstigste und schnellste Weg nach Europa, ihre Wirkung ist unmittelbar, weil die Menschen sich und ihre Werke hier individuell darstellen. Da sie mit ihren Projekten und nicht mit Reden an der europäischen Kultur teilnehmen, ist ihre Wirkung real. Als Schriftstellerin bleibt mir gar nichts anderes übrig, als an der Überzeugung festzuhalten, dass kulturelle Projekte wie dieses hier möglicherweise die einzigen Instrumente der Veränderung und daher auch die einzigen förderungswürdigen Maßnahmen sind.

Die Frage, welche Bedeutung es hat, Kultur in dieser Weise zu präsentieren, hat auch mit der Zukunft zu tun. Ich denke, wir auf dem Balkan müssen uns noch eine weitere wichtige Frage stellen: Was für einen Beitrag könnten wir für die EU leisten, unser aller künftige Heimat? Wenn man uns eine solche Frage stellt, bleiben wir gewöhnlich einen Augenblick stumm, etwas verlegen, weil wir sie uns nicht selbst gestellt haben! Doch dann sind wir rasch (Improvisation ist eine unserer größten Stärken!) mit einer „geistreichen“ Antwort zur Hand: das Überleben!

Kunst und Kultur sind, wenn sie so wollen, praktische politische Werkzeuge, um positive Effekte auf außen- und innenpolitischer Ebene zu erzielen.

Wir werden euch lehren, wie man trotz widrigster Umstände überlebt! Ohne uns klarzumachen, dass solche Kenntnisse für euch ziemlich unwichtig sein könnten. Das dürfen wir uns nicht eingestehen. Unser Dasein unter dem Kommunismus bestand nur aus Überleben, da würde uns die Erkenntnis, dass dieses Wissen heute niemand mehr braucht, das Gefühl der Überflüssigkeit geben. Unser Leben käme uns irgendwie vergeudet vor. Trotzdem scheint mir klar zu sein, dass unser Beitrag in zwei Dingen bestehen könnte: Erstens in der kulturellen und künstlerischen Produktion und zweitens in jungen, gebildeten Menschen voller Geist, Intelligenz und Neugier.

Ohne wirtschaftliche und politische EU kann es wahrscheinlich auch keine kulturelle EU geben. Doch das Gegenteil ist genauso wahr: Ohne Kultur wird es mit Wirtschaft und Politik allein nicht klappen, jedenfalls nicht auf lange Sicht. Die EU braucht ein Bindemittel, und das kann nur aus einer anderen Sphäre kommen, einer Sphäre, zu der jedes Land, egal, wie klein und politisch umstritten, einen Beitrag leisten kann.

Auch wenn es vielleicht nicht sehr offenkundig ist – es zeigt sich aber in mehr als einer Hinsicht – die Menschen streben nach mehr als Geld. Zumindest in Europa. Kommen wir also zum Schluss: Falls der Balkan wirklich nach Europa zurückkehrt, muss er als Name, als Substantiv, und nicht als Verb zurückkehren.

 

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Über die Autorin
Slavenka Drakulić
Schriftstellerin

Slavenka Drakulić ist eine der bekanntesten kroatischen Schriftstellerinnen, deren fiktionale und nicht-fiktionale Bücher in viele Sprachen übersetzt wurden. Eines ihrer bekanntesten Bücher ist  „Wie wir den Kommunismus überstanden… und dennoch lachten. Ihr letzter Essayband „Café Europa Revisited: How to Survive Post-Communism ist auf Englisch 2021 bei Penguin Random House erschienen. 2010 wurde ihr Buch  „S.: A Novel About the Balkans“ von Juanita Wilson verfilmt (“As If I Am Not There”).

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