Illustration mit Landkarte der Länder des Westbalkans, die mit Nadel und Faden von der EU zusammengenäht werden

Wie löst man das Balkan-Puzzle?

Die neue Eskalation in dem schwelenden Kosovo-Konflikt im September 2023 führt die brisante politische Lage auf dem Westbalkan vor Augen. Unter diesen Umständen ist es schwierig, das verlorene Vertrauen zwischen den Menschen und Staaten wiederherzustellen. Der Autor setzt dabei auf Journalisten und Medien. Und auf die Europäische Union (EU).

Der wichtigste destabilisierende Faktor auf dem Westbalkan ist zweifellos ein schwer verwundetes Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine versucht es, über Banja Luka und Belgrad eine Brutstätte für einen neuen Krieg im Herzen Europas zu schaffen. Um das Problem zu personalisieren: Wladimir Putin versucht beharrlich, durch Milorad Dodik, den politischen Führer der bosnischen Serben, einen bewaffneten Konflikt in Bosnien und Herzegowina zu provozieren.

Russland will die EU destabilisieren und die Inkompetenz des NATO-Bündnisses demonstrieren, indem es Chaos und Krieg in der Region verursacht. Ziel ist die Verwirklichung eines jahrhundertealten russisch-serbischen Traums: die Schaffung eines Großserbiens, welches die Republika Srpska, Montenegro und einen Teil des Kosovo umfassen würde.

Bosnien zerreißen?

Der Plan ist präzise: Bosnien und Herzegowina soll unter dem Vorwand, Muslime zu bekämpfen, auseinandergerissen und die ethnisch gesäuberte Republika Srpska ihrer „Mutter“ Serbien angegliedert werden. Im Kosovo soll aus der Union der serbischen Gemeinden eine neue Republika Srpska gegründet werden – und dann, auf lange Sicht, auch dieses Gebiet serbisch werden.

Russland will die EU destabilisieren und die Inkompetenz des NATO-Bündnisses demonstrieren, indem es Chaos und Krieg in der Region verursacht. Ziel ist die Verwirklichung eines jahrhundertealten russisch-serbischen Traums: die Schaffung eines Großserbiens.

Die großserbischen Strategen profitieren von der Tatsache, dass Serben und Montenegriner eine fast identische Sprache sprechen, dass sie den orthodoxen Glauben teilen und dass die mächtige serbisch-orthodoxe Kirche die autochthone montenegrinisch-orthodoxe Kirche einfach verschlungen hat. Serbien übt durch den seinen Geheimdienst – dessen Chef in der Vergangenheit durch prorussische Statements auffiel – und riesige Geldsummen politischen Einfluss auf die montenegrinische Regierung aus.

Serbien hält die Schlüssel in der Hand

Serbien hält die Schlüssel zur Versöhnung und zu gutnachbarlichen Beziehungen auf dem Westbalkan in der Hand, ob es uns gefällt oder nicht. Getragen vom starken Wind aus Moskau schürt Serbien auch über die Republika Srpska und den Verband der serbischen Gemeinden im Kosovo das bereits große Misstrauen zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

In diesem aufgeheizten politischen Klima ist es schwierig, über die Wiederherstellung des verlorenen Vertrauens zwischen den Menschen und den Staaten auf dem Westbalkan zu sprechen. Doch das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass sich die Nachbarn nicht durch Gewehrrohre anschauen, sondern ins Gespräch kommen und sich versöhnen.

Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, glaube ich, dass gerade diejenigen, die eine der Hauptrollen für den Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugoslawien gespielt haben, den größten Einfluss auf die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Völkern und Staaten in der Region haben können: Journalisten und Medien.

Es mag paradox erscheinen, aber diejenigen, die eine der Hauptrollen für den Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugoslawien gespielt haben, können den größten Einfluss auf die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Völkern und Staaten in der Region haben: Journalisten und Medien.

Gerade deshalb muss die Rolle der Journalisten und der Medien bei der Wahrheitsfindung und Versöhnung wesentlich größer sein als die Rolle, die sie bei der Verbreitung der ungeheuerlichen Lügen, des Hasses und der Kriegstreiberei gespielt haben.

Ein altes Sprichwort sagt: Wenn das Wasser schlammig wird, sollten wir zur Quelle zurückkehren. Erinnern wir uns: Der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević hat den Krieg auf dem Balkan auch mit der Unterstützung durch Journalisten und Medien begonnen. Die Verantwortung der Journalisten für die physische und psychische Zerstörung von Menschen und Städten, für die Missachtung jeglicher ethischen Grundsätze ist nicht geringer als die Verantwortung der Politiker und Generäle.

Virus des Hasses

Es waren Journalisten, die das Virus des Hasses und des Krieges verbreiteten, von dem das gesamte Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens erfasst wurde. Es waren Journalisten, die die Gemüter vergifteten und friedliche Menschen in Angst und Schrecken versetzten.

Erst nachdem Journalisten und Medien das ehemalige Jugoslawien entlang ethnischer Linien auseinandergerissen hatten, betraten uniformierte Henker – verschiedene Armeen und Paramilitärs – die Bühne. Es folgten Panzer, Kanonen, Konzentrationslager, der Völkermord in Srebrenica, ethnische Säuberungen, Flüchtlingskolonnen ohne Aussicht auf baldige Rückkehr.

Die Versuchung war offensichtlich groß: Im inneren Konflikt zwischen Wahrheit und falschem Patriotismus setzte sich der sogenannte „Patriotismus“ unter den kriegslüsternen Journalisten durch. Patriotische Journalisten richteten im ehemaligen Jugoslawien ein regelrechtes Massaker an, nicht nur durch ihre Berichte, sondern auch durch die Verbreitung und Verherrlichung der kriegshetzerischen Reden wütender Politiker, Generäle, Kriegsverbrecher und ihrer Gräuel. Während Waffen sprachen und patriotische Journalisten Kriegsverbrechen verherrlichten, wurde professioneller Journalismus geächtet und verfolgt.

Es ist eine Schande, dass die ungeheuerliche Rolle der Anstifter des Krieges, d. h. der Journalisten und Medien, vom Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkannt und sanktioniert wurde. Die Strafverfolger in Nürnberg und Ruanda wussten sehr wohl um die Rolle von Journalisten bei der Entstehung von Krieg und Kriegsverbrechen: In Nürnberg wurde der Herausgeber der antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Gericht in Ruanda verurteilte einen belgischen Journalisten und einen Priester wegen Anstiftung zum Krieg zu jeweils 20 Jahren Haft.

Es ist eine Schande, dass die ungeheuerliche Rolle der Anstifter des Krieges, d. h. der Journalisten und Medien, vom Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkannt und sanktioniert wurde.

Als ich die Anklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Carla del Ponte, bei einer Veranstaltung in Sarajevo fragte, warum sie nicht wie ihre Kollegen aus Ruanda und Nürnberg gehandelt habe, antwortete sie, dass sie nicht das Mandat dazu habe. Es ist bedauerlich, dass es keine Strafverfolgung gegenüber den kriegstreibenden Journalisten gegeben hat.

Fehlende Katharsis

Aus diesem Grund gab es auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens weitgehend keine Katharsis, wenn es um Hassreden und Kriegstreiberei ging. Und das hatte eine stimulierende Wirkung auf die heutigen Verfechter der Politik von „Blut und Boden“. Die Länder des Westbalkan sind in die 1990er Jahre zurückgekehrt, als diese Politik ihren Höhepunkt erreichte.

Die Wahrheit, Versöhnung und die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Völkern, die sich im Krieg befunden haben, sind vor allem eine Frage der Katharsis. Ich möchte daran erinnern, dass Deutschland seine Verantwortung für die NS-Zeit seiner Vergangenheit nicht verringert, auch wenn seit der Niederlage des Faschismus mehr als sieben Jahrzehnte vergangen sind. Im Gegenteil: Ein Museum im Zentrum Berlins befasst sich mit dem Holocaust, und das in unmittelbarer Nähe der Institutionen, die die Größe und Macht des deutschen Volkes widerspiegeln.

Die Angst vor den Anderen und dem Anderen auf dem Westbalkan zu überwinden, ist ein langer und schwieriger Prozess. Versöhnung, Vergebung und die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Balkanstaaten können nicht durch die Staaten selbst abgeschlossen werden.

Durch die geschickte Manipulation, andere Nationen kollektiv zu beschuldigen, selbst für Verbrechen, die vor Jahrhunderten oder Jahrzehnten begangen wurden, blockieren Politiker durch ihre Tycoons, ihre Medien und ihre Journalisten die Wege der Versöhnung. Sie versuchen so, jeden Gedanken an ihre individuelle Verantwortung nicht nur für den vergangenen Krieg, sondern auch für ihre persönliche Verwicklung in massive Korruption und Kriminalität zu vermeiden.

Durch die geschickte Manipulation, andere Nationen kollektiv zu beschuldigen, selbst für Verbrechen, die vor Jahrhunderten oder Jahrzehnten begangen wurden, blockieren Politiker durch ihre Tycoons, ihre Medien und ihre Journalisten die Wege der Versöhnung.

Daher sollte alles getan werden, um das Vertrauen wiederherzustellen, die Koexistenz auf dem Westbalkan zu fördern, offene Fragen zu lösen und einen ungehinderten Personen- und Kapitalverkehr zu gewährleisten. In diesem politisch gefährdeten Gebiet sind zudem die Achtung der Menschenrechte, der Vielfalt und der Sicherheit unabdingbar.

Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess sollten neben den politischen Führern auch Journalisten, Medien, Schriftsteller und intellektuelle Eliten spielen. Nicht nur aus den Balkanländern, sondern auch aus der Europäischen Union. Leider können die Länder des Westbalkans ohne nennenswerte Hilfe der Europäischen Union, die sich scheinbar gleichgültig verhält, nicht allein gegen den Einfluss Russlands und gegen die Gebietsansprüche Großserbiens in Bezug auf Bosnien und Herzegowina, den Kosovo und Montenegro kämpfen.

Vor allem nicht mit korrupten Führern, die gar nicht wollen, dass ihre Staaten geordnet und rechtsstaatlich werden. Deshalb denke ich, dass sich die EU, insbesondere ihr stärkstes Mitglied, Deutschland, aktiver an der Lösung der Probleme auf dem Westbalkan beteiligen sollte. Vor allem durch ihren großen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Vor allem in Bosnien und Herzegowina.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten können mit verschiedenen Ideen, Initiativen und Projekten sowie mit konkreter fachlicher und finanzieller Unterstützung des Nichtregierungssektors helfen: Sie können Journalisten, Schriftsteller, Filmemacher und Kulturschaffende fördern und so eine Kultur des Dialogs, der Versöhnung, der Vielfalt und der Erinnerung auf dem Westbalkan unterstützen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hilft dabei, eine bessere Zukunft aufzubauen.

Zu diesem Zweck sollte die Europäische Union neben dem politischen Handeln einen Sonderfonds einrichten. Dabei geht es darum, die Menschen und Nationen zu verbinden und nicht zu trennen.

Es wäre auch hilfreich, wenn unter der Schirmherrschaft der Europäischen Union Sommercamps und sonstige Treffen stattfänden, an denen Kinder und Jugendliche aus Serbien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina und Montenegro teilnehmen. Dort können sie frühzeitig Freundschaften schließen und sich ein Urteil über „das Andere und den Anderen“ bilden. In einer Atmosphäre der Toleranz, des Respekts und der Liebe, statt der Aufwiegelung und des Hasses.

Es wäre hilfreich, wenn unter der Schirmherrschaft der Europäischen Union Sommercamps und andere Treffen stattfänden, an denen Kinder und Jugendliche aus Serbien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina und Montenegro teilnehmen.

Auf der anderen Seite könnte die Europäische Union ein Einreiseverbot für Politiker, Journalisten, Kulturschaffende, Sportler und andere verhängen, wenn sie Hassreden und Kriegstreiberei auf dem Westbalkan vorantreiben und Sezessionen oder Grenzänderungen ankündigen. Selbstverständlich sollte die Rede- und Meinungsfreiheit uneingeschränkt respektiert werden. Die Mitarbeiter der Botschaften der EU-Länder sind zweifelsohne in der Lage, zwischen Meinungsfreiheit und Hassrede zu unterscheiden.

Ist der politische Wille der Europäischen Union vorhanden, könnte sie eine außenpolitische Initiative auf den Weg bringen und strategisch darauf dringen, dass sich das Kräftegleichgewicht vor Ort verändert und eine friedliche Koexistenz in der Region möglich wird. Dies setzt voraus, dass alle Länder des westlichen Balkans so bald wie möglich der Europäische Union beitreten können.

Deshalb sollte die Europäische Union jetzt das tun, was sie bereits 2004 getan hat, als sie in der sogenannten „Großen Welle“ gleich zehn Länder auf einmal aufnahm: Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Litauen, Lettland, Ungarn, Malta, Polen, die Slowakei und Slowenien. Drei Jahre später kamen Bulgarien und Rumänien hinzu. Und dann schließlich Kroatien. Die Aufnahme erfolgte trotz der Tatsache, dass einige der Länder nicht alle strengen Kriterien für den EU-Beitritt erfüllten, einige tun es bis heute nicht.

Durch die Entscheidung der damaligen europäischen und internationalen Staats- und Regierungschefs konnten diese Länder jahrzehntelange Spaltungen, territoriale und andere umstrittene Fragen unter der Schirmherrschaft der EU mehr oder weniger lösen. Aus erbitterten Rivalen sind politische Partner geworden. Auf diese Weise würde die Europäische Union sowohl dem Westbalkan als auch sich selbst helfen: Statt problematischer Nachbarn bekäme sie friedliche Nachbarn und stabile Partner in allen Lebensbereichen. Und das könnte die Europäische Union angesichts von Angriffen aus Ost und West stärken.

Über den Autor
Šeki Radončić
Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor

Šeki Radončić ist ein montenegrinischer Journalist, Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Produzent, Antikriegs- und Menschenrechtsaktivist. Er ist Gründer und Direktor der Nichtregierungsorganisation „Dokument“, die Menschenrechtsverletzungen, Verstöße gegen Bürgerrechte, Polizeifolter und Kriegsverbrechen untersucht. Radončić ist Mitglied des montenegrinischen P.E.N.-Zentrums, Mitbegründer des Montenegrinischen Helsinki-Komitees und der Independent Daily News.

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