Illustration: Karte des Kosovo mit skizziertem Vertrag.

Der Westbalkan: Kosovo – Der junge Staat in einem schwierigen Umfeld

Um den Status des Kosovo wird weiterhin gestritten. Teilweise wurden Konfliktlinien schlicht eingefroren und die Polarisierung setzt sich fort. Allerdings konnte offene militärische Konfrontation bisher verhindert werden. Über die Staatswerdung des jüngsten Landes im Westbalkan.

Mit dem Beginn der Präsidentschaft Barack Obamas in den USA 2009 verlagerte sich der amerikanische Fokus auf Innenpolitik. Auf die eine oder andere Weise „kapitulierte“ der Westbalkan vor Brüssel. Es wurden Anstrengungen unternommen, um Verhandlungen zwischen den Nachbarstaaten Kosovo und Serbien aufzunehmen.

Der Sturz der Nachfolger Zoran Đinđićs und die Machtübernahme durch die Milošević-Anhänger in Belgrad wurden vor allem in Brüssel sogar als Chance gesehen. Vučić und Dačić saßen im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts Hashim Thaçi gegenüber, dem ehemaligen politischen Führer der UÇK (Ushtria Çlirimtare e Kosovës) und damaligen Premierminister und einflussreichen Persönlichkeit des Kosovo. Die Begegnungen in Brüssel sollten einen Dialog beginnen, der zur Anerkennung des Kosovo durch Serbien führen sollte. Der Brüsseler Ansatz sah vor, zuerst technische Fragen zu klären, bevor über die Anerkennung gesprochen werden sollte. Das „Portfolio“ der kosovarisch-serbischen Beziehungen wurde an den Kommissar für Außenbeziehungen oder den Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik (EAD) übergeben.

Zu Beginn war es Baroness Lady Ashton, die als Hohe Vertreterin die ersten Schritte zur Deeskalation der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien unternahm. Sie war die erste hochrangige Beamtin, die die Premierminister des Kosovo und Serbiens zusammenbrachte – damals Thaçi und Dačić. Vučić saß noch in der zweiten Reihe der Regierung, bereitete sich auf seinen Amtsantritt vor, wartete aber in erster Linie darauf, dass das Eis bei Treffen mit den kosovarischen Führern brechen würde. Alles, was auf die Treffen zwischen Lady Ashton und den Führern des Kosovo und Serbiens folgte, drehte sich um technische Vereinbarungen: die Beteiligung der Kosovo-Serben an den Institutionen des Kosovo, ihre Integration in das institutionelle Leben in den Gemeinden, in denen sie die Mehrheit bildeten, die Akzeptanz der lokalen Polizei und Richter usw..

Zähe Schritte

Drei Personen sitzen an einem Tisch.
Die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini (Mitte), der kosovarische Präsident Hashim Thaçi (rechts) und der serbische Präsident Aleksandar Vučić (links) bei einem Treffen zum Belgrad-Pristina-Dialogprozess in Brüssel, Belgien, am 18. Juli 2018, Foto: EU POOL / AA via picture alliance

All diese Schritte erwiesen sich als zäh, und die Zusammenkünfte dauerten viele Stunden. Schon während dieser Treffen war es mehr oder weniger offensichtlich, dass nicht jede der getroffenen „technischen“ Vereinbarungen auch wirklich erfüllt werden würde. Zwei zentrale Punkte lasteten schwer auf Thaçis Treffen mit Dačić und später mit Vučić. Erstens die Anerkennung des Kosovo durch Serbien, zweitens die Autonomie für die Serben im Kosovo. In zwei Vereinbarungen, die 2013 unter Vermittlung von Lady Ashton und 2015 durch ihre Nachfolgerin, Federica Mogherini, getroffen wurden, sicherte der Kosovo zu, dass Kommunen mit serbischer Mehrheit im Kosovo einen Gemeindeverband würden gründen dürfen.

Die Organisation „Asociacioni i Komunave me shumicë serbe në Kosovë” sollte die Interessen der Kosovo-Serben vertreten. Da Kosovo seiner Verpflichtung aus dem Abkommen von 2013 aber nicht nachkam, kam der EAD mit Federica Mogherini erneut auf dieses Thema zurück.

Belgrad, das die Kosovo-Serben durch Vučić vertrat, wollte nicht weiterverhandeln, ohne die Frage des serbischen Gemeindeverbunds auf der Tagesordnung. Die Drohung, dass sich integrierte Serben, die bereits Teil der kosovarischen Institutionen waren, aus ihnen zurückziehen würden, löste nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin, Paris, London und Washington Alarm aus. Sie gipfelte in der Forderung, dass den Serben Autonomie gewährt werden müsse.

So machte sich Kosovo in den Verhandlungen 2015 mit Präsident Thaçi und Premierminister Isa Mustafa an die Aufgabe, die vereinbarte Assoziation tatsächlich zu gründen. Zuvor musste jedoch das Verfassungsgericht des Kosovo konsultiert werden, um festzustellen, ob das Abkommen sowohl in seiner Gesamtheit als auch in seinen Klauseln mit der verfassungsmäßigen Ordnung des Kosovo konform ist. Das Verfassungsgericht im Kosovo genießt hohes Ansehen. Die Tatsache, dass es seit 2008, als es mit der Unabhängigkeit des Kosovo gegründet wurde, zwei Präsidenten und eine Regierung entlassen hat, spricht für seine Macht und den Respekt, der ihm entgegengebracht wird.

In seinen Empfehlungen zum Verbund der serbischen Gemeinden im Kosovo heißt es, dass das Abkommen, einen Zusammenschluss serbischer Gemeinden im Kosovo zu gründen, gültig sei, dass aber einige der in Brüssel vereinbarten Klauseln gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Kosovo verstießen. Insbesondere die Exekutivrechte, die den Serben zugestanden werden sollten, würden die verfassungsmäßige Ordnung des Kosovo beeinträchtigen. Im Ergebnis blieb das Versprechen der Gründung eines Gemeindeverbunds nach erheblichen politischen Turbulenzen im Kosovo ausgesetzt.

Der Sondergesandte beschuldigte Thaçi, er habe während des Kosovo-Krieges in einem Berglager der UÇK in Albanien mit Organen gefangener Serben Handel getrieben.

Der unnachgiebige Führer des Kosovo, Hashim Thaçi, der inzwischen bereits zwei Amtszeiten als Premierminister hinter sich hatte und die Präsidentschaft anstrebte, wurde 2013 mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert. Der Sondergesandte des Europarates, der Schweizer Parlamentarier Dick Marty, beschuldigte Thaçi, er habe während des Kosovo-Krieges in einem Berglager der UÇK in Albanien mit Organen gefangener Serben Handel getrieben.

Diese Anschuldigung tauchte zuerst in britischen Medien auf und wurde dann von Marty untersucht. Sie veranlasste den Europarat und die Europäische Union, unterstützt von den USA, die kosovarische Regierung zu zwingen, Gesetze zu ändern und Sonderkammern zur Untersuchung des Organhandels und der Kriegsverbrechen im Kosovo einzurichten. Die Regierung und das Parlament wurden zu dieser Zeit von Thaçi und seiner Partei angeführt. Das Gericht sollte – basierend auf den Gesetzen des Kosovo – in Den Haag tagen, die Ermittler, Staatsanwälte und Richter sollten international sein.

Der Druck, für eine so ungeheuerliche Anklage ein eigenes Gericht einzurichten, veranlasste die Amerikaner dazu, die Ermittlungen zu übernehmen, während die Europäer die Mittel und die Richter für den Prozess bereitstellen mussten. Sollte der Kosovo die Sonderkammern ablehnen, würde die Angelegenheit im UN-Sicherheitsrat verhandelt, und weder Russland noch China die Internationalisierung dieses Instruments ablehnen. Dergestalt an die Wand gedrückt, akzeptierte Thaçi die Abstimmung über dieses Sondergericht, obwohl er wusste, dass er der Hauptgegenstand der Ermittlungen und einer möglichen Anklage sein würde.

Die Ermittlungen gegen Thaçi schienen zunächst eine Gelegenheit zu sein, den Dialog voranzutreiben. In Brüssel wurde es als Chance für den Kosovo gesehen, den Kosovo-Serben endlich Zugeständnisse zu machen. Im Gegenzug würde sich Serbien damit begnügen, dass sein Führer Vučić in Berlin, aber auch in anderen EU-Ländern als Dirigent der Zukunft des Westbalkans angesehen wurde. Und das, obwohl Belgrad nach der Annexion der Krim durch Russland trotz der EU-Beitrittsambitionen nicht nur keine Sanktionen gegen Putin verhängte, sondern sich auch als eine Art Botschafter zwischen der EU und Putin verstand.

Bis heute ein Rätsel

Bis heute bleibt es ein Rätsel, wer der Initiator hinter der Ablehnung aller rund 33 Abkommen war, als die Idee eines Gebietsaustauschs zwischen dem Kosovo und Serbien vorgebracht wurde. – nicht nur wurden einige von ihnen nicht umgesetzt, sondern auch andere wichtige.

Und das zu einer Zeit, als die Situation im Kosovo ein Maß an Normalität erreicht hatte, in dem Vertreter der Kosovo-Serben an der Exekutive und Judikative teilnahmen und begonnen hatten, die Gesetze ihres neu gegründeten Staates zu respektieren.

Verschwörungstheoretiker behaupten, dass es die neue US-Regierung unter Präsident Donald Trump gewesen sei, die die Gespräche über den Gebietsaustausch zwischen den beiden Ländern vorangetrieben habe. Tatsache bleibt jedoch, dass sich die Trump-Administration nie für einen solchen Austausch ausgesprochen hat. Sie hat lediglich erklärt, dass die amerikanische Regierung eine solche Vereinbarung respektieren würde.

Ein Mann trägt eine EU-Flagge und stellt sie neben eine Serbien-Flagge.
Ein Protokollbeamter trägt die EU-Flagge vor der Pressekonferenz des Sonderbeauftragten von US-Präsident Donald Trump für den Kosovo-Serbien-Dialog, Botschafter Richard Grenell, und des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, Belgrad, Serbien, Freitag, 24. Januar 2020, Foto: ASSOCIATED PRESS | Darko Vojinovic via picture alliance

Tatsache ist aber auch, dass die damalige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini – auch wenn sie es nie öffentlich zugegeben hat – nicht nur informiert hat. Sie war auch aktiv an den Verhandlungen beteiligt, in denen Thaçi und Vučić mittels geografischer Karten einen Gebietsaustausch zwischen dem Kosovo und Serbien vereinbart hatten. Unterstützt wurden sie dabei vom amerikanischen Botschafter in Berlin, Richard Grenell, der vom US-Präsidenten zum Sondergesandten für den Kosovo-Serbien-Dialog ernannt worden war. Der weltpolitische Fokus in dieser Zeit lag auf der Pandemie, dem Impfen.

Die kosovarische Regierung unter Premierminister Ramush Haradinaj, der jahrzehntelang als Hauptrivale von Hashim Thaçi galt, verfolgte einen anderen Ansatz. Haradinaj wurde acht Jahre lang vom Internationalen Gerichtshof wegen Verbrechen in den ehemaligen Jugoslawienkriegen angeklagt und dann freigesprochen. Als Premierminister verhängte er Zölle auf die Einfuhr serbischer Waren in den Kosovo – auch als Reaktion auf die Blockade der Mitgliedschaft des Kosovo bei Interpol durch Belgrad. Um den internationalen Anerkennungsbemühungen des Kosovo entgegenzuwirken, erkaufte sich Belgrad durch eine destruktive Politik die Anerkennung von Drittländern – vor allem aus Afrika und dem Pazifik. Während Premierminister Haradinaj entschlossen seine Politik gegenüber Serbien umzusetze, hatte der kosovarische Präsident Thaçi sein Abkommen über den Gebietsaustausch mit dem serbischen Präsidenten mehr oder weniger abgeschlossen.

Europa war gespalten

Europa war gespalten, wobei der EAD, angeführt von Mogherini, diesen „Deal“ eindeutig befürwortete. Vor allem Berlin und London taten alles, um das Abkommen über den Gebietsaustausch zu verhindern, da es die Büchse der Pandora nicht nur für den gesamten Westbalkan, sondern auch für andere Gebiete in Europa öffnen würde – insbesondere für die Ukraine mit der damaligen Situation auf der Krim.

Premierminister Ramush Haradinaj wurde durch den Staatsanwalt der Sonderkammer unter der Leitung des Amerikaners Jack Smith nach Dan Haag eingeladen, obwohl er bereits zwei Prozesse vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) hinter sich hatte. Außerdem stand er unter einem außergewöhnlichen Druck, die Zölle auf serbische Waren aufzuheben. Beides zusammen zwang Haradinaj 2019 zum Rücktritt. Nach diesem Schritt dachte man zunächst, dass mit den vorgezogenen Wahlen im Kosovo eine Einigung zwischen Pristina und Belgrad erzielt werden würde.

Bei den Wahlen kam zum ersten Mal der Führer der linken Opposition, Albin Kurti, an die Macht. Die langwierigen Verhandlungen zur Regierungsbildung und vor allem die mangelnde Abstimmung mit dem Koalitionspartner, der Demokratischen Liga des Kosovo (Lidhja Demokratike e Kosovës/LDK), führten dazu, dass Albin Kurti bereits nach wenigen Wochen das Vertrauen seines Regierungspartners verlor und sich in der Folge einem Misstrauensvotum im kosovarischen Parlament stellen musste.

Inzwischen ist bekannt, dass der Sturz von Kurtis Regierung von der Trump-Administration, vertreten vom Sondergesandten des Weißen Hauses, Richard Grenell, mitgetragen wurde. Darüber hinaus erklärte Grenell kürzlich, dass neben dem Abkommen, das zwischen Pristina und Belgrad unterzeichnet werden sollte, auch eine Vereinbarung über die Schließung der Sonderkammern in Den Haag getroffen worden sei und damit die mögliche Einstellung der Anklage gegen Thaçi.

Haftbefehl gegen den Präsidenten

Hashim Thaci und sein Anwalt im Gericht in Den Haag.
Hashim Thaçi, rechts, und sein Anwalt David Hooper, links, erscheinen am Montag, 9. November 2020, zum ersten Mal vor einem Richter der Kosovo-Spezialkammern in Den Haag, Niederlande, Foto: ASSOCIATED PRESS | Jerry Lampen via picture alliance

Aber es gab Widerstand gegen diese Vereinbarungen. Allen voran durch Deutschland und Großbritannien. Vor allem aber durch den amerikanischen Staatsanwalt Jack Smith, der an dem Tag einen Haftbefehl gegen Präsident Thaçi ausstellte, an dem dieser ein Flugzeug in die Vereinigten Staaten besteigen wollte, wo er im Weißen Haus mit Vučić feierlich das Abkommen über den Gebietstausch und die Auflösung des Sondergerichts unterzeichnen sollte. Das Spektakel darf mit Fug und Recht als Politthriller bezeichnet werden.

Im Kosovo beschloss die von Kurtis Gegnern geführte Regierung unter Avdullah Hoti, nach Washington zu reisen, um ein weiteres Abkommen mit Vučić zu unterzeichnen. Dieses konzentrierte sich in erster Linie auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch Israel.

Im Weißen Haus unterzeichneten Premierminister Hoti und Präsident Vučić unter dem „Segen“ von Präsident Trump eine Vereinbarung zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Versprechen, politische Angelegenheiten beiseitezulassen und in die Zukunft zu blicken. Die Anerkennung Israels erfolgte unter der Bedingung, dass sowohl Kosovo als auch Serbien ihre Botschaften nach Jerusalem verlegen. Kosovo hat diesen Schritt unternommen, Serbien nicht.

Die Europäer erwarteten die bevorstehenden freien Wahlen im Kosovo. Das Verfassungsgericht nahm eine Berufung von Kurtis Partei an, weil ein wegen einer Straftat verurteilter Abgeordneter, dessen Immunität nicht aufgehoben worden war, an der Abstimmung gegen Hotis Regierung teilgenommen hatte. Die Entscheidung, die Regierung Hoti zu stürzen, Thaçis Reise nach Den Haag, und die zweiten Wahlen des Landes innerhalb eines Jahres, bescherten Kurti ein Comeback. Bei den Wahlen im Februar 2021 sicherte sich Kurti den Wahlsieg. Mit 50,03 Prozent der Stimmen verliehen ihm die kosovarischen Wähler eine absolute Mehrheit und das Vertrauen, in den kommenden vier Jahren allein zu regieren.

Zum ersten Mal hatte Kosovo einen Premierminister, der allein mit seiner eigenen Partei regieren konnte. Kurtis Versprechungen waren bedeutsam, aber noch größer waren die Hoffnungen der internationalen Gemeinschaft, dass es endlich Fortschritte im Dialog geben würde. Der politische Flügel der UÇK mit Thaçi in Den Haag und Haradinaj in der Opposition war stark geschwächt.

Kurti, ein Veteran der kosovarischen Politik, war Ende der neunziger Jahre ein Anführer der Studentenbewegung. Während des NATO-Bombardements wurde er von Milošević und dem ehemaligen Informationsminister und jetzigen serbischen Präsidenten Vučić verhaftet. 2001 freigelassen setzte er seine politischen Aktivitäten fort, zunächst in der Zivilgesellschaft und dann mit seiner eigenen politischen Gruppierung.

Zum ersten Mal hatte Kosovo einen Premierminister, der allein mit seiner eigenen Partei regieren konnte.

Als radikaler Linker lehnte Kurti das Interimsabkommen für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo ab, das 1999 zu den NATO-Bombardierungen führte, die zivilen Missionen der Vereinten Nationen und der EU im Kosovo (1999-2008) und den Vorschlag des finnischen Präsidenten Ahtisaari, der zur Unabhängigkeit des Kosovo führte. Ein Jahrzehnt lang sah Kurti in der Vereinigung mit Albanien die einzige Lösung für den Kosovo. Als er erkannte, dass die Idee eines Großalbanien nicht realisierbar war, beschloss er 2011, in die kosovarische Parlamentsszene einzutreten. Er verurteilte die Korruption, kritisierte die korrupte politische Elite und die Zugeständnisse an Serbien, gab aber die Idee einer Vereinigung mit Albanien nicht auf.

Zehn Jahre später gewann er die Wahlen für seine Partei „Selbstbestimmung“. Kurti war die lang ersehnte Veränderung für die Bürger des Kosovo und für die internationalen Partner, insbesondere für die deutsche Regierung, die fleißig geholfen hatte, die Stolpersteine auf seinem Weg zur Macht beiseitezuräumen.

Doch nach zweieinhalb Jahren an der Regierung scheint sich Kurti nicht von seinen Vorgängern zu unterscheiden: viele Albaner aus dem Kosovo wandern nach Deutschland aus. Vetternwirtschaft und Korruption herrschen weiterhin, und die Partei dominiert die öffentlichen Institutionen. Während der Sommermonate berichteten kosovarische Medien, dass die Sonderstaatsanwaltschaft gegen fünf Minister der Regierung wegen Korruption und Misswirtschaft ermittelt. Diese Berichte wurden weder von Kurti noch von der kosovarischen Sonderstaatsanwaltschaft widerlegt.

Auf internationaler Ebene haben Gespräche über eine „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien Vorrang. Während der serbische Präsident Vučić den westlichen Plan zögerlich akzeptiert, bleiben die Albaner im Kosovo mit Kurti an der Spitze vorsichtig.

Zum ersten Mal in seiner neueren Geschichte sagt der Kosovo „Nein“ zu seinen westlichen Befreiern und Sponsoren. Natürlich nicht offen; ein „Nein“ zu den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien wäre nicht durchsetzbar. Die Kosovaren hören nur: Kurti sagt „Nein“ zur Selbstverwaltung der Serben im Kosovo. Obwohl sie das Brüsseler Abkommen und das Rahmenakommen von Ohrid zur „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien akzeptiert hatten, haben weder Kurti noch Vučić mit ihrer Umsetzung begonnen. Der kosovarische Ministerpräsident begründete dies damit, dass „das Abkommen vollständig umgesetzt werden muss“.

Während der serbische Präsident Vučić den westlichen Plan zögerlich akzeptiert, bleiben die Albaner im Kosovo mit Kurti an der Spitze vorsichtig.

Der serbische Präsident argumentierte, dass „zuerst der Verband der serbischen Gemeinden im Kosovo gebildet werden muss“, dann könnten die anderen Punkte angesprochen werden. Im Mai 2023, nachdem bei Kommunalwahlen in vier Gemeinden mit serbischer Mehrheit nur 3 Prozent der Bevölkerung teilgenommen hatten, beschloss Ministerpräsident Kurti, in diesen Gemeinden zwangsweise albanische Bürgermeister einzusetzen.

Kosovo-Serben werteten das als Provokation. Massive Proteste begannen, die zu Gewalt gegen NATO-Friedenstruppen führten, die als Barriere zwischen den kosovarischen Spezialeinheiten und den gewalttätigen serbischen Demonstranten im Norden des Kosovo stationiert waren.

Der Hohe Vertreter der EU für Außenpolitik, Josep Borrell, und sein Sondergesandter für den Dialog, Miroslav Lajčák, konnten in dieser Situation nicht vermitteln. Die einseitigen Aktionen Kurtis führten daher zur Verhängung von Strafmaßnahmen gegen den Kosovo und damit zu seiner Isolation. Projekte und europäische Hilfen für das ärmste Land des Kontinents wurden eingefroren. Diese Situation und das tragische Spiel, bei dem zum ersten Mal das „Kind des Westens“ gegen diejenigen Staaten rebelliert, die auf die eine oder andere Weise die Geburt dieser Republik ermöglicht haben, führten zu erheblichen politischen Spannungen im Kosovo.

Isoliert und gleichzeitig in eine Reihe korrupter Affären innerhalb seiner Regierung verwickelt, scheint Kurti nicht die Absicht zu haben, seine Politik der „sauberen Hände“ aufzugeben, obwohl die Medien wöchentlich über Missstände in seiner Regierung berichten. Er scheint auch nicht dem Druck nachzugeben, den er weiterhin auf die Medien und die kosovarische Justiz ausübt. Noch schwerer wiegt, dass Kurti sein Versprechen nicht einhalten will, die Spezialkräfte der Polizei und die albanischen Bürgermeister aus Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo abzuziehen und Wahlen in diesen Gemeinden zu organisieren. Zuerst wolle er, dass die „Strafmaßnahmen“ der EU aufgehoben würden, und dann werde er handeln. Die EU scheint nicht bereit zu sein, sich zu bewegen.

Kurti will sein Versprechen nicht einhalten, die Spezialkräfte der Polizei und die albanischen Bürgermeister aus Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo abzuziehen und Wahlen in diesen Gemeinden zu organisieren.

Die Amerikaner scheinen Kurti den Rücken gekehrt zu haben. Es bleibt abzuwarten, ob ein Brief, der von 50 euro-amerikanischen Parlamentariern unterzeichnet wurde, darunter die Leiter der Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten der USA, Deutschlands, Großbritanniens usw., die Situation ändern wird. In dem Brief werden die Staats- und Regierungschefs der genannten Staaten aufgefordert, Serbien nicht als Schlüsselfaktor auf dem Balkan und als Hauptpartner für den Frieden auf dieser Halbinsel zu sehen..

Es ist möglich, dass sich die Außenpolitik der EU und der USA gegenüber Serbien auch nach diesem Brief nicht ändern wird. Die Haltung der USA und des Westens gegenüber Serbien blieb immer unklar, im besten Falle ambivalent. Einerseits galt und gilt das Land als Anwärter auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und sollte damit theoretisch denselben harten Bedingungen und Anleitungen unterworfen sein, wie alle anderen Beitrittskandidaten.

Andererseits wird Serbien zugestanden, dass es die verheerenden Neunziger Jahre in ein völlig anderes Licht taucht als seine Nachbarländer, dass es die Ergebnisse der Kriege nicht wirklich anerkennt, und dass es im Innern autokratische Verhältnisse pflegt, wie sie in keinem anderen Beitrittsland toleriert würden. Einerseits wird Serbien als Unruhestifter angesehen, andererseits gilt es wegen seiner relativen Größe und strategischen Bedeutung als potenzieller Stabilitätsfaktor.

Zwischen Ambivalenz und Schlingerkurs

Die Unsicherheit des Westens manifestiert sich in seiner Haltung gegenüber jedem Konflikt um den Kosovo oder Bosnien und Herzegowina. Zugleich gibt diese Ambivalenz Vučić die Gelegenheit, einen Schlingerkurs zwischen Ost und West zu fahren.

Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden gilt die Devise, es müsse auf dem Balkan, namentlich in den beiden Konfliktregionen Kosovo und Bosnien, endlich zu einem tragfähigen Kompromiss kommen, der Serbien und die Serben auf Dauer bindet und ins westliche Lager führt. Zu diesem Zweck hat Washington seine tüchtigsten Diplomaten aufgeboten. Dass sie bisher wenig Erfolge erzielt haben, liegt nicht zuletzt am Versagen des kosovarischen Regierungschefs Albin Kurti, der es Vučić leicht macht, seine Schaukelposition beizubehalten.

Selbst in einer Situation, in der Russland und der Westen am Rande eines offenen Konflikts stehen, gelingt es Präsident Vučić, sein Land zwischen den Fronten hindurchzunavigieren.

Illustration: Händedruck vor europäischer und serbischer Flagge.
Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden gilt die Devise, es müsse auf dem Balkan, namentlich in den beiden Konfliktregionen Kosovo und Bosnien, endlich zu einem tragfähigen Kompromiss kommen, Illustration: Zerbor/Shotshop via picture alliance

Er verhängt keine Sanktionen gegen Putins Russland, verkauft aber gleichzeitig Waffen an die Ukraine. Er erhält eine Fassade der Sympathie für Putin aufrecht, lässt aber gleichzeitig 200.000 russische Gegner und Saboteure des Krieges nach Serbien einreisen. Er ist nicht mehr der bevorzugte Gast in Berlin, investiert aber stark in die Lobbyarbeit in Amerika. Und er sieht, dass der Kosovo aufgrund seiner selbstzerstörerischen Politik isoliert bleibt. Vučić hat alle Zeit der Welt, auf Kurti zu warten...

Kurti stehen diese Möglichkeiten nicht zur Verfügung. Er setzt allein darauf, dass seine Einschätzung und seine Beurteilung der Lage vom Westen respektiert werden und dass Vučić auf dieser Grundlage verurteilt und der Kosovo belohnt wird. Aber er erreicht am Ende genau das Gegenteil.

Die Zusagen von Kurti und Vučić zur Umsetzung des Rahmenabkommens von Ohrid erfolgten im Frühjahr 2023. In der Zwischenzeit beginnt auf dem Balkan der Herbst, und die Situation hat sich nach diesem Abkommen noch verschlechtert. Aber die Rhetorik Kurtis und Vučićs hat sich nun verstärkt – aus innenpolitischen Gründen. Beide verschärfen ihren Ton. Sie wissen, dass Europa und die USA in drei Monaten in ein neues Wahljahr eintreten. Mit Putins Front in der Ukraine, mit den Wahlen in Europa und den USA, mit dem fehlenden Fokus auf der Lösung von etwas Wesentlichem auf dem Balkan: zwischen Kosovo und Serbien und Bosnien und Herzegowina scheint es, dass wir wieder dort sein werden, wo wir waren – am Nullpunkt.

Über den Autor
Beqë Cufaj
Autor, Botschafter a. D.

Beqë Cufaj, 1970 im Kosovo geboren, ist langjähriger Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ ). Daneben hat er Romane und Essay-Bücher veröffentlicht. Cufaj war 2018 bis 2021 Botschafter der Republik Kosovo in Deutschland. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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